Vom mathematischen Leichtsinn eines Lockdown light

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Vom mathematischen Leichtsinn eines Lockdown light

Es stellt sich die Frage, warum kippen die Covid-19-Fallzahlen nach einer scheinbar über Wochen leicht positiven Entwicklung plötzlich wieder nach oben? Wie ernst ist das? Können wir das nach Weihnachten oder zu Beginn des neuen Jahres, wenn man abgesehen von Sylvester ohnehin eher zu hause ist, leicht wieder aussitzen? So nach der Devise, wenn der Wellenbrecherlockdown im November funktioniert hat, dann kann es jetzt doch sooo schlimm auch nicht werden. Machen wir Ausgangsbeschränkungen nach dem Weihnachtsrummel, wenn wir ohnehin eher zu hause sind. Schließen wir doch auch die Skigebiete lieber den ganzen Juli über.

 

Der Autor des Kommentars hat sich darüber etwas den Kopf zerbrochen und auch gerechnet. Das Ergebnis ist, dass das Ende des langsamen Rückgangs durch einen Lockdown light nicht so verwunderlich ist, wie es scheint und dass der Wiederanstieg der Fallzahlen vermutlich heftiger ausfallen wird als die Bremsung, wenn... ja wenn die Politik nicht genug unternimmt. Doch da kann man Zweifel haben, wenn Ministerpräsidenten selbst ein (virtuelles) Treffen mit der Bundeskanzlerin zu dem Thema verweigern, obwohl es sich nach unserer Kenntnis durchaus um erwachsene Personen handelt.

 

Die Entwicklung einer Pandemie hängt von verschiedenen Faktoren ab, die sich mit der Zeit mehr oder weniger verändern und sich auch nicht leicht isolieren lassen. Trotzdem können vereinfachende mathematische Modelle wahrscheinliche Entwicklungen aufzeigen und auf diese Weise auf Probleme hinweisen. Ohne darüber nachzudenken, haben wir ohnehin vereinfachte mathematische Modelle im Kopf, die uns, weil sie zu simpel sind, daran hindern gewisse Entwicklungen vorauszusehen.

 

Nehmen wir an, die Fallzahlen blieben konstant. Das impliziert, dass jede infizierte Person genau eine Person neu infiziert. Wir erwarten, dass alles bleibt wie es ist und zunächst sieht es auch so aus. Reproduktionsfaktor R = 1. Doch dann steigen die Zahlen plötzlich. Sind die Leute nun leichtsinniger geworden? Das kann durchaus sein, aber es muss nicht der Grund sein.

 

Dass R = 1 ist bedeutet nicht automatisch, dass R überall 1 ist. Wahrscheinlich gibt es regionale Unterschiede. Nehmen wir an, die Hälfte der Bevölkerung würde in einem Landesteil leben, in dem R = 0,9 ist und die andere in einem Landesteil, in dem R = 1,1 ist. Auch der Krankenstand sei in beiden Teilen anfangs gleich. Daraus ergibt sich noch immer

 

R(gesamt) = (0,5 x 0,9) + (0,5 x 1,1) = 0,5 (0,9 + 1,1) = 1

 

Eine reale Veränderung hat nach der durchschnittlichen Zeit der Weitergabe der Infektion, die wir als 4 Tage annehmen, nicht stattgefunden und zwar unabhängig davon ob wir das ganze Gebiet mit R = 1 annehmen oder es wie oben zweigeteilt behandeln. Wir drücken die Veränderung in dem Modell mit zwei Gebieten wieder durch einen Faktor aus und bezeichnen ihn als den Faktor der realen Veränderung VR. VR ist von der Zeit, gemessen in Tagen abhängig. Keine Veränderung nach 4 Tagen heißt VR(4) = 1.

 

Nun lassen wir den hypothetischen Zeitraum von 4 Tagen ein zweites Mal vergehen, in dem eine Person im Durchschnitt ins Infektionsgeschehen involviert ist und schauen wieder. Wenn R überall gleich ist, hat sich nichts verändert, nicht so wenn wir von zwei unterschiedlichen Gebieten ausgehen. Dann ergibt sich der Faktor der realen Veränderung

 

VR(8) = 0,5 (0,9x0,9 + 1,1x1,1) = 0,5 (0,81 + 1,21) = 0,5 x 2,02 = 1,01

 

Eine sehr geringe Veränderung um 1 %, die beim Schwanken der Zahlen nicht auffällt. Doch lassen wir das mal eine Zeit weiterlaufen. Nach 20 Tagen, also fünf durchschnittlichen Ansteckungsperioden ergibt sich im Modell mit zwei unterschiedlichen Gebieten:

 

VR(20) = 0,5 (0,9^5 + 1,1^5) = 0,5 (0,59049 + 1,61051) = 0,5 x 2,201 = 1,1005

 

also ein Anstieg um gut 10 % oder von 10 000 Fällen auf 11 005. Über eine Periode von 40 Tagen würden daraus sogar über 14 000 Fälle.

 

Das Modell zeigt die Labilität eines scheinbar konstanten Zustandes des Infektionsgeschehens und zwar einen Hang nach oben. Übertragen auf eine Karte mit einer genug feinen Einteilung müsste sich herausstellen, dass die wegen hohem Infektionsgeschehen rot markierten Gebiete nach einer Zeit, in der sich Zufälligkeiten des Anfangszustandes verwischt haben, immer roter werden, während andere ausbleichen. Real wird das aber kaum klar zu sehen sein, denn das Modell berücksichtigt nicht die Diffussion, die eintritt, wenn sich Menschen zwischen den Gebieten hin und her bewegen. Außerdem können die Gruppen mit unterschiedlichem R nicht nur räumlich sondern auch sozial definiert sein. Real wird wohl beides immer zusammen auftreten.

 

In Deutschland war zunächst nicht zu beobachten, dass ein konstantes Geschehen in einen Anstieg gekippt ist, sondern dass ein langsamer Abwärtstrend scheinbar plötzlich in einen etwas steileren Aufwärtstrend gekippt ist. Doch auch das lässt sich plausibel modellieren. Dazu gibt es zwei unterschiedliche Ansätze, die aber qualitativ zum gleichen Ergebnis führen. Man kann die Gebiete unterschiedlich groß machen. Dann zieht zuerst, wenn es größer ist, das Gebiet mit dem kleineren R mehr nach unten, verliert aber bald an Bedeutung. Die zweite Variante ist die Annahme, dass die Gebiete weiter je 50 % der Bevölkerung umfassen, aber R einmal 0,6 und einmal 1,2 ist, woraus sich R(gesamt) = 0,9 ergibt. Daraus folgt:

 

VR(4) = 0,9

VR(8) = 0,9

VR(20) = 1,28

 

Das heißt, das Modell liefert tatsächlich den zunächst erwarteten Abfall am Anfang, der sich bei unseren theoretischen Zahlen bereits nach 8 Tagen gefangen hätte. Danach geht es schon nach 20 Tagen um 28 % nach oben. Zu dem gleichen qualitativen Ergebnis kommt man, wenn man Gebiete mit unterschiedlich großem Bevölkerungsanteil annimmt.

 

Der Mechanismus, der mit all diesen Modellen veranschaulicht wird ist, dass Gebiete (oder Gruppen) mit stärkerem Infektionsgeschehen (z. B. weil weniger Menschen da wirklich an Corona glauben) zu Trendsetern werden, während Gebiete mit geringerem Infektionsgeschehen eben weil die Zahl der Fälle zurückgeht auch ihren Einfluss auf das Gesamtgeschehen mit der Zeit immer mehr einbüßen.

 

Das lässt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren. Nehmen wir zwei Gruppen von Menschen an. In der Gruppe A wird durchschnittlich nur in jedem zweiten Fall eine Person angesteckt und in der Gruppe B durchschnittlich von einer Person zwei Personen. Vier Infizierte in A stecken 2 an und diese dann nur noch eine Person. In B werden 8 Personen infiziert und in der zweiten Runde 16. Wir haben also am Ende 17 Infizierte und nicht mehr 8, obwohl sich der Unterschied von R in beiden Gruppen rechnerisch aufhebt und zunächst die Zahl der Infizierten auch nur leicht von 8 auf 10 gestiegen war. Die gezielte Bekämpfung von Hotspots lohnt sich also wirklich, doch kleinere Effekte und solche, die nicht gut lokal einzugrenzen sind, können mit der Zeit ebenfalls zu großen Problemen führen.

 

Egal wie man die Wirklichkeit in einem mathematischen Näherungsmodell abbildet, immer werden sich Gebiete mit höherem R schließlich in der Gesamtwirkung durchsetzen, es sei denn R ist überall und auf Dauer zumindest etwas kleiner als 1.

 

Daraus lassen sich drei Schlüsse ziehen:

 

  1. Es ist mit positiven Effekten am Anfang zu rechnen, die aber nicht anhalten werden. Wenn diese nur schwach ausgeprägt sind, wie es im November der Fall war, dann ist das sogar wahrscheinlich.

  2. Nur ein Lockdown lohnt sich, der hart genug ist, so dass davon ausgegangen werden kann, dass R in allen Gebieten und allen sozialen Gruppen unter 1 fällt. Dann gibt es wenigstens keine Umkehr noch während des Lockdown light wie wir es zur Zeit erleben.

  3. Die Dynamik des Wiederanstieges kann leicht unterschätzt werden. Es ist eine Rückkehr zu einem im Prinzip exponentialen Wachstum, das von manchen Gebieten oder Segmenten getragen wird, auch wenn dort der Faktor R nur wenig über 1 liegen sollte.

 

Frohe Weihnachten! - jk