Kommentar: Widerlegt eine Statistik des Robert Koch Instituts die Notwendigkeit des Lockdowns?

Widerlegt eine Statistik des Robert Koch Instituts die Notwendigkeit des Lockdowns?

Ein Interview mit dem Finanzwissenschaftler Stefan Homburg von der Uni Hannover macht derzeit die Runde, in dem er behauptet, der Corona-Lockdown ab 23. März sei unnötig gewesen und habe nichts gebracht. Das Interview ist am 17. April auf dem YouTube-Kanal der ehemaligen Fernsehmoderatorin (u. a. RTL, SAT 1, Bild) Milena Preradovic erschienen. Entsprechend hat Homburg auch in einem Artikel für die Zeitung Die Welt vom 21. April argumentiert. Um seine bereits seit längerem geäußerte Kritik am Lockdown zu untermauern benutzt Homburg eine Analyse des Robert Koch Instituts. Das Problem, dass diese Analyse für die Rechtfertigung eines Lockdowns zu offenbaren scheint, ist so simpel zu sehen, dass Homburg sich eigentlich wundern sollte, warum Wissenschaftler/innen vom Fach nicht schon längst darauf gekommen sind.

 

Es geht um den Reproduktionsfaktor R. Er ist eine auf Daten basierte Schätzung der Zahl, der Menschen, die ein infizierter Mensch im Durchschnitt anstecken wird. Ist dieser Wert über eins, dann wächst die Zahl der Infektionen und zwar selbst wenn er nur wenig über 1 ist bereits ziemlich rasant. Das Wort für rasant in der Mathematik heißt in diesem Falle exponential. Zum Beispiel bedeutet ein Wert von nur 1,1 bereits, dass sich die Zahl der Krankheitsfälle in 30 Tagen mehr als verdoppelt. Selbst bei diesem niederen Wert würde eine Infektion übers Jahr zu über 6000 akut erkrankten Personen führen. Wenn der Wert unter 1 fällt, also eine infizierte Person im Schnitt weniger als eine Person ansteckt, geht die Seuche allmählich zurück. Jedenfalls wenn R richtig geschätzt ist.

 

Nun hat Homburg beim RKI eine Graphik gefunden, die zeigt wie dieser Wert R erst steil in die Höhe geht, dann fällt und am 23. März als der Lockdown begann bereits unter der 1-Linie war. Das ist ein klarer Befund und das RKI steht dahinter.

 

Das Problem ist, dass das RKI einerseits wissenschaftliche Veröffentlichungen macht, die diejenigen die sich mit der Materie beschäftigen bewerten können, andererseits diese einer Öffentlichkeit präsentiert, die mit den Voraussetzungen wenig bis garnicht vertraut ist. Ein gutes Beispiel ist die Sterblichkeitsrate, die das RKI wenn man nachrechnet wohl so berechnet, dass sie die Zahl der Toten durch die Zahl der nachweislichen Infektionen teilt. Das kann man machen, wenn die Seuche vorüber ist. So lange sie noch anhält, wäre es natürlich besser die Zahl der Toten und die Zahl der Genesenen zu vergleichen. Das bringt aber andere Schwierigkeiten mit sich unter anderem weil sich der Zeitpunkt der Genesung nicht so sicher bestimmen lässt wie der des Todes. Die Fachleute dürften sich um das Problem Gedanken machen, die Öffentlichkeit nimmt dagegen die Berechnung einfach für bare Münze.

 

Die Schätzung der Reproduktionszahl beruht auf folgenden Annahmen: Bis ein Krankheitsfall sicher ist und die Person möglichst unter Quarantäne steht, vergehen ohne oder mit beginnenden Symptomen 4 Tage. Also errechnet das RKI wie viele neue Fälle es in vier Tagen gibt und teilt diese Zahl durch die neuen Fälle in den vier Tagen davor.

 

Ein Problem dabei ist, dass es eine Weile braucht bis ein Test erfolgt und abgeschlossen ist und dass die Meldungen der Testergebnisse nur mit Verzögerung über mehrere Stationen beim RKI eingeht. Das RKI geht davon aus, dass alleine zwischen Ansteckung und ersten Symptomen 5 Tage vergehen, von denen die Person bereits 2 Tage ansteckend ist. Also rechnet das RKI die Reproduktionszahl immer um mehrere Tage zurück. Das Zurückrechnen nennt das RKI "Nowcasting". So kommt das RKI darauf, dass sich die Reproduktionszahl „etwa um den 22. März um R = 1 stabilisiert“. Nun beruht das Nowcasting ja auch auf geschätzten Annahmen. Nimmt man an, dass das RKI um einen Tag beim Rückdatieren zu großzügig war, dann hat man genau den ersten Tag des Lockdowns.

 

Es ist aber auch möglich, dass das RKI mit seiner Rückdatierung richtig liegt. Es gab ja vorher bereits Appelle und einzelne Verbote zu hauf. Meldungen etwa aus Italien dürften das Gefahrenbewusstsein bei vielen geschärft und das Verhalten beeinflusst haben. Veranstaltungen wurden abgesagt, nicht alle feierten Corona-Parties. Der Lockdown in Bayern, dem Saarland und in Teilen Baden-Württembergs begann ja auch schon etwas vor dem 23. März. Das betraf zwar nur einen kleineren Teil der Gesamtbevölkerung, aber Gebiete, die damals besonders betroffen waren. Bayern ist ja noch immer das Bundesland mit den meisten Infektionen. Hätten die übrigen Gebiete mit dem Lockdown nicht nachgezogen, wären sie wahrscheinlich zu den neuen Zentren geworden und hätten die Reproduktionszahl rasch wieder erhöht. Dementssprechend ist die Einschätzung des RKI, dass die bundesweiten Kontakteinschränkungen dazu geführt haben, dass die Reproduktionszahl unter bzw. nahe 1 blieb, wohl zu verstehen.

 

Das alles mag ein wenig nach Haarspalterei aussehen, doch die Folgerung, das Kontaktverbot sei unnötig und nutzlos gewesen, hat weite politische Implikationen, die sich insbesondere die FDP-AfD-Parteien zu nutze machen werden. Wer wie Homburg davon ausgeht, dass die Epidemie quasi von selbst am Abklingen ist, muss auch keine Angst vor einem Neustart haben. Diese Beurteilung sollten wir aber den Virologen/innen überlassen und die sind sich ziemlich einig, dass diese Gefahr besteht.

 

Verwendet wurden die Angaben des Epidemiologisches Bulletin 2020/17 des Robert Koch Instituts vom 23. April

 

https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/17_20.pdf?__blob=publicationFile

 

siehe auch zu weiteren Behauptungen Homburgs:

 

https://correctiv.org/faktencheck/2020/04/22/faktencheck-zu-stefan-homburg-warum-seine-argumente-zur-reproduktionszahl-des-coronavirus-zu-kurz-greifen

 

auch Die Welt hat ihren Autor wenn auch erst am 26. 4. relativiert:

 

https://www.welt.de/wissenschaft/article207456203/Coronavirus-Stefan-Homburg-und-die-Grafik-ueber-die-Deutschland-spricht.html

 

jk