Lesekränzchen-Buchtipp 4: Mittelreich / Josef Bierbichler

Mittelreich / Josef Bierbichler

Mittelreich.jpg

Lizenz: 
Keine (all rights reserved)
Quelle: 
Suhrkamp Verlag

Wuchtig, wütend, feinsinnig, poetisch, lakonisch, sarkastisch. Begeisterte Worte findet Moni Hoffmann für Josef Bierbichlers Jahrhundertroman und Generationendrama. Ihr Buch des Jahres.

„Es ging immer noch mit Riesenschritten bergauf. Der neue Staat war auch gerade fertig gegründet worden, Konrad hieß der neue Adolf, und die neue Mark begann nach und nach ein glänzendes Fett anzusetzen.“

Der Satz aus meinem Buch des Jahres, der Familiensaga Mittelreich von Josef Bierbichler, ist doppelbödig: Er beinhaltet eine gewisse Wurstigkeit und gleichzeitig einen sehr genauen Blick auf die Zeitgeschichte. Wurstig, denn es scheint belanglos im Fluss der Zeit, dass dem Adolf der Konrad folgt und das Leben im Dorf, das im Zentrum des Romans steht, halt einfach genauso weitergeht - Nur dürfen tut man vieles nimmer. Aber wo Fett angesetzt wird, bedarf es keines Rückblicks. Da wird die Vergangenheit fremd und es braucht Jahrzehnte, bis der jüngste Spross in dem drei-Generationenroman feststellt:

„Es wird Zeit, sich zu erinnern“

Episodenhaft rankt sich der Roman um eine bayerische Seewirtsfamilie und umspannt die Zeit des mit der Industrialisierung ausgehenden vorletzten Jahrhunderts, bis in die 1980er Jahre.

Jede Figur in dem Kosmos der Wirtsfamilie trägt ein Erbe in sich, das die Verstrickungen und die Traumata der Zeit widerspiegelt.

Da ist die aufstrebende Mittelschicht, die dem armseligen bäuerlichen Leben als mittelreich entwächst. Da ist das Sättigungsgefühl der Jahre vor dem ersten Weltkrieg, das in Mobilmachungs-Enthusiasmus mündet. Da sind Ernüchterung, Verwundung und Schuldgefühle der Verlierer, die nach Satisfaktion streben. Da sind die 1930er Jahre in denen mit dem Hass auf Juden, wie der Erzähler berichtet:

„dem Schoß der Zeit der neue Sinn entsprang. Das Kindbett war schon bereitet, es musste nur noch das Kopfkissen aufgeschüttelt werden.“

Da ist Vernichtung, da sind den Todesmärschen entkommene KZ Häftlinge, die als „furchterregende Menschentiere“ im Stall die Milch vom Boden auflecken.

Da sind die Zwangsarbeiter, die „Arbeitspolen“ und die einquartierten Flüchtlinge aus den „verlorengegangenen Ostgebieten“, die, sofern hoher Geburt, dem Wirtshaus gutsherrschaftlichen Glanz einhauchen.

Und da sind die Priester aus dem Klosterinternat, in dem der Wirtssohn in den 1970er Jahren kaserniert ist, einsam und missbraucht. Der Befreiungsschlag – mit dem auch die Erzählperspektive zum Ich-Erzähler wechselt, ist eine genüsslich ausgebreitete blutige Racheorgie, die ungeahndet bleibt.

Atemberaubend lenkt der allwissende Erzähler durch Vor- und Rückblenden, durch erschütternde wie durch groteske und skurrile Szenen, denen doch eins gemeinsam ist: die Allgegenwart des Schreckens und der Verstrickungen, gebettet auf idyllischem Boden. Der Boden, das dünne Eis, ist brüchig und unter ihm brodelt leitmotivisch die braune Jauche.

Wütet wie die Axt im Wald, derb, deftig, saftig, kraftvoll, – so lauten die allfälligen Kategorien der Rezensentinnen für Bierbichlers Erzählweise.

Zugegeben: diese Etiketten sind so stereotyp wie dann doch aber auch zutreffend. Zart und genau, wie Bierbichler seine Betrachtung selbst nennt, trifft es aber mindestens ebenso.

Die Sprache oszilliert zwischen poetisch und brachial, feinsinnig und lakonisch-sarkastisch, getränkt von Bitternis und Wut, wie auch von Sehnsucht und Verbundenheit. Mal antiquiert, mal wuchtig.

Aus manchen Satzkonstruktionen spricht fast Karl Valentin „Ich war nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nie.“ Andere wiederum erinnern an Büchners Woyzeck, wenn sinnliche Eindrücke wie Stille und Lärm, Kälte und Hitze beschworen werden.

Viele Feinheiten erschließen sich erst beim zweiten Lesen, wenn die Wucht der Geschichten erstmal verdaut ist und die Figuren vertraut sind.

Soviel zu meinem Buch des Jahres.

Im März 2018 ist Kinostart für Mittelreich: höchste Zeit, die bayerische Chronik vorher zu lesen, um eigene Bilder entstehen zu lassen und die Leerstellen, die die Verfilmung des fast 400 Seiten starken Buches hinterlassen wird, zu füllen.

Beruhigend zu wissen: Bierbichler selbst führt Regie und spielt die Hauptrolle in dem Film. Eine Grantler-Garantie für Authentizität sozusagen.