Anhörung von Amnesty International im EU-Parlament: Menschenrechtsverletzungen bei Hotspots in Italien: Einzelfälle oder direkte Folge des Konzepts?

Menschenrechtsverletzungen bei Hotspots in Italien: Einzelfälle oder direkte Folge des Konzepts?

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EU-Flüchtlingspolitik zusammengefasst
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Vergangene Woche hatte der Ausschuss des Europaparlaments für Bürgerliche Freiheiten und Inneres einen Mitarbeiter von Amnesty International eingeladen. Thema waren Amnestys Vorwürfe im Bericht "Hotspot Italien". In diesem Bericht dokumentierte Amnesty Menschenrechtsverletzungen, die die italienischen Behörden an Schutzsuchenden begehen. Und Amnesty legt nahe, dass viele dieser Menschenrechtsverletzungen keine missbräuchlichen Einzelfälle sind. Vielmehr seien diese Menschenrechtsverletzungen die direkte und systematische Folge des gegenwärtigen Hotspot-Konzepts. Im Folgenden hört ihr einen Bericht von dieser Anhörung: 10:21

 

Skript:

Laut Matteo de Bellis, dem Autor von Amnestys Bericht "Hotspot Italien", bestehen die sogenannten Hotspots, die die EU 2015 erfunden hat, aus drei Komponenten. Erstens aus der Abgabe von Fingerabdrücken der Einreisenden direkt bei der Ankunft. Zweitens, dem Aussieben der Ankommenden zwischen denen, die als Asylsuchende und denen, die als irreguläre MigrantInnen betrachtet werden. Und drittens, der möglichst schnellen Abschiebung Letzterer. Als Hotspots werden bestimmte Erstaufnahmelager bezeichnet, etwa auf Lampedusa. Doch Matteo de Bellis erklärte, dass die drei Komponenten des Hotspot-Ansatzes auch ausserhalb dieser Lager in ganz Italien umgesetzt werden, in Polizeiwachen etwa. Die Absicht hinter diesem Hotspot-Ansatz sei es, die irreguläre Weiterreise von MigrantInnen in andere europäischen Staaten zu verhindern. Zeitgleich mit diesem Ansatz haben die europäischen Institutionen auch ein Notumsiedlungsprogramm für Flüchtlinge vereinbart, um Italien zu entlasten. So die ursprüngliche Theorie. Doch als es um die Praxis ging:

 

O-Ton Matteo de Bellis 1:

"Während sich die Solidaritätskomponente des Plans schnell als illusorisch erwiesen hat – mit lediglich über 2.000 Menschen tatsächlich von Italien in andere europäische Länder umgesiedelt im Jahr 2016, bei 181.000 Einreisen -, wurde der repressive Teil, der die Weiterreise verhindern und die Rückkehrzahlen erhöhen sollte, aggressiv durchgesetzt. Es ist also klar, dass der Hotspot-Ansatz hauptsächlich dazu diente, das Dublin-System nochmals zu bestätigen. Und dass es die Last auf die Frontstaaten erhöht hat, anstatt sie zu verringern."

 

Bei jeder der drei Komponenten des Hotspot-Ansatzes habe Amnesty International Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Zum Beispiel die willkürliche Inhaftierung von Menschen, die ihre Fingerabdrücke nicht abgeben wollten.

 

O-Ton Matteo de Bellis 2:

"In Italien erlaubt das Gesetz keine Inhaftierung von mehr als 24 Stunden bei Fällen, in denen sich jemand weigert, seine Fingerabdrücke abzugeben. Trotzdem haben die Behörden Personen tagelang und sogar wochenlang wenn nicht monatelang inhaftiert. Ohne jegliche Möglichkeit, die Rechtmässigkeit dieser Inhaftierung gerichtlich anzufechten."

 

Anderes Beispiel: Gewaltexzesse. Die Europäische Kommission selbst habe laut Matteo de Bellis Italien empfohlen, der Polizei per Gesetz zu erlauben, moderate Gewalt anzuwenden, falls Menschen ihre Fingerabdrücke nicht abgeben wollen. Italien habe es nicht getan, aber das Innenministerium erlaube es de facto der Polizei.

 

O-Ton Matteo de Bellis 3:

""Einer der Männer hat mich geohrfeigt. Ich weiss nicht mehr wieviel mal. Ich hatte zu sehr Angst, also habe ich meine Fingerabdrücke abgegeben."

Es ist das, was mir Hellen gesagt hat, eine 25-jährige Geflüchtete aus Eritrea, in Rom im Mai. Und sie ist nur eine der 24 Menschen, die uns erzählt haben, dass sie solche Situationen durchlebt haben. Andere erzählten, wie sie mit dem Faust geschlagen, getreten, geknüppelt oder bedroht wurden. Wieder andere erzählten uns, dass sie Elektroschocks durch Elektroschockknüppeln bekommen haben, oder dass sie in die Genitalien geschlagen wurden."

 

Bei der zweiten Komponente des Hotspot-Ansatzes, dem Aussieben der Ankommenden, erklärte Matteo de Bellis, dass es für diese Massnahme überhaupt keine legale Basis gebe. Aus drei Gründen hält er dieses Aussieben direkt bei der Ankunft für unangemessen.

 

O-Ton Matteo de Bellis 4

"Das Aussieben findet unmittelbar nach der Landung statt, zu einer Zeit, an der Menschen gerade schreckliche Erfahrungen und Menschenrechtsverletzungen auf See und in Libyen durchlebt haben. Viele von ihnen wurden gefoltert, vergewaltigt oder haben einen Schiffbruch im zentralen Mittelmeer überlebt. Und die italienischen Behörden erwarten von ihnen, dass sie unmittelbar nach der Landung in der Lage sind, ein Aussieben durchzulaufen, das ihr Leben verändern wird."

 

Neben dieser ersten Kritik am schnellen Aussieben empörte sich Matteo de Bellis darüber, dass die Menschen vor dem Aussieben nicht einmal über ihre Rechte aufgeklärt werden. Und schliesslich hält er die Frage, die zum eigentlichen Aussieben dient, für zu vage. Sie lautet: "Was bringt Sie hierher?"

Auch bei der letzten Komponente des Hotspot-Ansatzes, den verstärkten Abschiebungen, sprach der Forscher von Amnesty International von Menschenrechtsverletzungen.

 

O-Ton Matteo de Bellis 5

"Tausende von Aufforderungen zur selbständigen Ausreise binnen sieben Tage wurden an Individuen kurz nach ihrer Landung ausgehändigt. Individuen, die für irreguläre MigrantInnen gehalten wurden, auf der Grundlage des fehlerhaften Aussiebens, das ich eben beschrieben habe. Menschen, denen dieses Dokument ausgehändigt wurde, und die keine Hilfe bekommen haben. Menschen, die nicht imstande sind, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, selbst wenn sie es wollen. Menschen, die also Ausbeutung und Missbrauch in diesem Land ausgesetzt sind."

 

Neben diesen zahlreichen Aufforderungen zur Ausreise nehme die italienische Polizei auch bei Abschiebungen nicht genug Rücksicht auf die Risiken für die Betroffenen.

 

O-Ton Matteo de Bellis 6:

"Die italienische Polizei hat angefangen, neue bilaterale Abkommen mit Regierungen zu verhandeln. Darunter auch Regierungen, die für schreckliche Gräueltaten verantwortlich sind, zum Beispiel die sudanesische Regierung.

Und wir wissen zum Beispiel, dass am 24. August eine Gruppe von 40 Sudanesen von Italien nach Sudan zurückgeschickt wurde. Wir wissen, dass die Behörden keine ernsthafte Bewertung der Risiken durchgeführt hat, die mit dieser Rückführung einhergingen. Wir wissen, dass einige dieser Menschen tatsächlich aus Darfur kamen. Und wir wissen, dass Menschen aus Darfur besondere und gravierende Menschenrechtsverletzungen in den Händen der sudanesischen Behörden riskieren."

 

Matteo de Bellis erklärte, im Laufe seiner Recherche habe er von den italienischen Behörden keine Antwort auf seine Anfragen bekommen, bis auf einen Präfekten ganz am Anfang. Und doch:

 

O-Ton Matteo de Bellis 7:

"Trotzdem: als unser Bericht im November 2016 veröffentlicht wurde, sind hohe Beamte des Ministeriums an die Medien gegangen, um kräftig alle Vorwürfe zurückzuweisen und unsere Organisation zu kritisieren."

 

Übrigens: Um eine ausgewogene Darstellung zu bekommen, hatte das Europaparlament auch VertreterInnen Italiens zur Anhörung eingeladen. Diese konnten leider nicht erscheinen, leider... Mehrere Europaabgeordneten bedauerten, die italienische Regierung nicht mit Amnestys Vorwürfe konfrontieren zu können. Einige wie Dietmar Köster von der SPD wünschten sich eine Diskussion mit der Kommission zu diesem Thema.

Matteo de Bellis erklärte schliesslich Amnestys Forderungen an Italien und EU. Die EU müsse das Dublin-System überwinden, wonach Schutzsuchende im Land Asyl beantragen sollen, in welchem sie zuerst EU-Boden betreten. Das sei der Hauptgrund, warum ein Teil der MigrantInnen ihre Fingerabdrücke nicht abgeben wollen. Die EU müsse auch für eine effektive Umverteilung der Neuankommenden sorgen. Sie müsse für gleichmässige Schutz- und Hilfestandards in den Mitgliedstaaten sorgen. Und schliesslich müsse sie für die Freizügigkeit der Schutzberechtigten innerhalb der EU sorgen.

Im Anschluss an diese Anhörung kamen die meisten Reaktionen von italienischen Europaabgeordneten aus den Fraktionen der Sozialdemokratinnen und Linken. Sie zeigten sich, genauso wie einzelne Sozialdemokraten aus Portugal und Deutschland, sehr empfänglich für Amnestys Kritik am Dublin-System und am Hotspot-Ansatz.

Dietmar Köster von der SPD nahm die Anhörung auch zum Anlass, die Haltung der Bundesregierung zu kritisieren.

 

O-Ton Dietmar Köster (nicht transkribiert)

 

Die Sozialdemokratin Ana Gomes kritisierte ihrerseits die gegenwärtigen Pläne auf EU-Ebene, ein Abkommen mit Libyen abzuschliessen, um Schutzsuchende dorthin zurückzuführen.

 

O-Ton Ana Gomes:

"Es ist nicht möglich, irgendein Abkommen mit irgendjemandem abzuschliessen, der behauptet, die Regierung in Libyen zu sein. Es ist eine Immoralität, eine Heuchelei. Es ist ein Weg, um Menschen an einen Ort zurückzuschicken, wo sie in Transit waren, und wo sie den abscheulichsten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren."

 

Eine grüne EU-Abgeordnete stellte einige Verständnisfragen. Aus den Reihen der grössten Fraktion, den Christdemokraten jedoch, deren Mitgliedsparteien in vielen Mitgliedstaaten regieren, war überhaupt kein Ton zu Amnestys Bericht zu hören. Genauso wenig Reaktion bei den Liberalen, bei denen sich sonst schon mal einige für das Asylrecht einsetzen.

Ebenfalls keine Reaktion aus den rechtsradikalen und europaskeptischen Fraktionen. Lediglich aus der europaskeptischen konservativen Fraktion meldeten sich zwei Abgeordnete, darunter einer von der nationalistischen Partei Wahre Finnen aus Finnland. Bei ihm konnte man sich ein Beispiel rechtspopulistischer Rhetorik anhören. Beginnen wir mit dem berühmten "Ja, aber"-Satz.

 

O-Ton Jussi Halla-Aho 1:

"Natürlich bin ich mit Ihnen einverstanden, dass Gewalt und Folter nicht hinnehmbar sind..."

 

Also: Ich bin gegen Folter,... aber...

 

O-Ton Jussi Halla-Aho 2:

"...aber was schlagen Sie vor, was mit MigrantInnen passieren sollte, die ihre Fingerabdrücke nicht abgeben wollen?"

 

Kurzum: Ich bin dagegen, dass man MigrantInnen wegen Ihrer Fingerabdrücke foltert, aber eigentlich bin ich doch dafür. Dieser Abgeordnete der Wahren Finnen sitzt übrigens in der selben Fraktion wie die britischen Konservativen Tories und die polnische rechtspopulistische Regierungspartei PiS.

Aber hören wir ihn noch kurz zu. Welchen schöneren Ausdruck hat er sonst noch für Folter?

 

O-Ton Jussi Halla-Aho 3:

"Wenn sie nicht inhaftiert oder physisch überzeugt werden können..."

 

Wie bitte? Physisch überzeugt? Zur Erinnerung, mit diesem Ausdruck meint er folgenden Teil aus dem Bericht des Amnesty-Forschers:

 

O-Ton Matteo de Bellis 8:

"Andere erzählten, wie sie mit dem Faust geschlagen, getreten, geknüppelt oder bedroht wurden. Wieder andere erzählten uns, dass sie Elektroschocks durch Elektroschockknüppeln bekommen haben, oder dass sie in die Genitalien geschlagen wurden."