Klassenjustiz in Südbaden - über einen „Einzelfall“ der kein solcher ist

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Klassenjustiz in Südbaden - über einen „Einzelfall“ der kein solcher ist

Die neue Woche begann für Uwe E., der aus der Strafhaft mit Hand- und Fußketten in den Gerichtssaal gebracht wurde, recht früh. Montagmorgen um 9:15 Uhr begann sein Prozess. Das Amtsgericht (AG) Freiburg hatte ihm einen Strafbefehl über 750 € zugeschickt, den er nicht akzeptierte, weshalb am 09.010.2023 im Sitzungssal IX darüber öfffentlich verhandelt wurde. Mehrfach soll er, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, Knastbeamt*innen beleidigt, einen von ihnen als Nazi bezeichnet und diesem gegenüber den Hitlergruß gezeigt haben.

Erschienen waren an diesem Morgen für die Staatsanwaltschaft ein junger Rechtsreferendar, für die Verteidigung Rechtsanwalt Nicolai Erschig. Den Vorsitz führte die u.a. aus dem Hagermann-Prozess bekannte Richterin Julia Rajczak.

Der Sitzungsvertreter der Freiburger Staatsanwaltschaft verlas die Vorwürfe: E. soll in 14 Fällen Bedienstete der Haftanstalt u.a. als „Wichser“, „Pisser“, „Arschlöcher“ bezeichnet, ihnen auch mal den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt haben. Auch den Anstaltsarzt Dr. Teichmann habe er als „Arschloch“ bezeichnet.

In der Szene ist der aus dem Umland stammende Mittfünfziger nicht unbekannt, früher war er mit der Band „Scheiße“ unterwegs und arbeitete in einem Kinder- und Jugendtheater. Jetzt sitzt er seit August 2021 in Haft. Mehrfach wurde Uwe in den letzten 30 Jahren zu Geldstrafen wegen

Beleidigung und zuletzt dann auch zu kürzeren Haftstrafen wegen Diebstahl und Sachbeschädigung verurteilt. Aktuell ist seine Entlassung für 2025 geplant, wobei ein großer Teil der Haftzeit aus der Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen bestehen wird, die er nicht bezahlen kann.

Darauf nimmt der gelernte Veranstaltungstechniker auch in seinem kämpferischen Eingangsstatement Bezug und fragt die Richterin ob ihr bekannt sei, dass es Stimmen gebe die die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe fordern. Müsse er die geforderte Geldstrafe von

750 € absitzen entstünden dem Staat 15.000 € an Haftkosten für seine Einsperrung. Er sei Punkrocker, habe viele Jahre in der Technik eines Freiburger Kinder- und Jugendtheaters gearbeitet, aber er sei noch viel länger Alkoholiker und auch Drogenkonsument. Die Haftsituation, zumal

während der Zeit der Coronapandemie, sei besonders belastend gewesen, der Haftalltag geprägt von Gewalt unter den Inhaftierten, aber er sei auch von Bedienstete der JVA Freiburg geschlagen worden, und dies nicht nur einmal. Schwer zu ertragen sei auch, dass die Anstaltspsychologin

S., die er dann beleidigt haben soll, ihn, als er Hilfe gesucht habe bei ihr, diese verweigert hätte, ebenso wie der Anstaltsarzt, der ihm ein blaues Auge, das er nach einer Mißhandlung durch Beamte erlitten habe, nicht dokumentieren habe wollen.

Wegsperren, so schloss E. sein Eingangsstatement, helfe nichts, der Vollzugsalltag sei von „Asozialisierung, nicht von Resozialisierung“ geprägt, es finde lediglich ein „Verwahrvollzug“ statt: „niemand wird gebessert“.

In den folgenden Stunden werden zehn Bedienstete, neun Stationsbeamt*innen und der Anstaltsarzt, als Zeug*innen vernommen. Jeder einzelne Fall der angeblichen Beleidigung wird aufgedröselt und

versucht die konkrete Situation vorstellbar zu machen. Einige der Äußerungen räumt E. selbst ein und bei drei der Bediensteten entschuldigt er sich auch, die dann ihrerseits ausdrücklich betonen, sie

hätten kein Strafverfolgungsinteresse, oder hätten sich garnicht beleidigt gefühlt. So, als E. einen Vollzugsbeamten als „Fräulein“ bezeichnet haben soll. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft und der

Verteidiger diskutierten über die Frage, ob es sich hier um eine geschlechtsspezifische Beleidigung gehandelt habe, und ob sich ein Mensch der sich selbst nicht beleidigt gefühlt hat, dennoch dadurch -in strafrechtlichem Sinne- beleidigt worden sein kann. Das „Strafverfolgungsinteresse“ wird im Verlauf der Verhandlung auch nochmal diskutiert, denn eigentlich ist Beleidigung ein Antragsdelikt, d.h. sich geschädigt fühlende Personen müssen explizit einen Strafantrag stellen, jedoch gibt es auch -wie hier- die Möglichkeit, dass ein*e Dienstvorgesetzte*r Strafantrag stellt. Im Falle von E. hatte jeweils ein Mitarbeiter der Anstaltsleitung Strafantrag gestellt, so dass es später lediglich strafmildernd, aber nicht strafbefreiend wirken wird, dass einige der Bediensteten kein eigenes Strafverfolgungsinteresse äusserten.

Die neun als Zeug*innen teilweise in Uniform erschienenen Vollzugsbeamt*innen, konnten sich teilweise garnicht mehr an die Vorfälle erinnern, welche sich überwiegend im Jahr 2022 ereignet haben sollen. Deutlich wurde jeweils die enorme Anspannung im Vollzugsalltag, unter der die Inhaftierten stehen, seinerzeit noch durch die Coronamaßnahen verstärkt. Immer wieder wurde E. zudem in den „Bunker“ gesteckt. Er beschrieb diesen als einen leeren gekachelten Raum, mit

einem Loch im Boden als WC, er habe die Kleidung vom Leib geschnitten bekommen und sei vom Personal als er dorthin verbracht wurde auch geschlagen worden.

Für alle angeklagten Vorfälle sei er zudem schon vollzugsintern hart sanktioniert worden, durch die Unterbringung auf einer Sicherheitsstation, durch Einzelhaft, durch Arrest, durch Einkaufsverbot, Entzug des TV-Geräts, Freizeitsperre und ähnliches.

Als kurz nach 11 Uhr der Zeuge Dr. Teichmann auftritt, gerät dessen Vernehmung recht kurz, denn er fragt wie es um seine ärztliche Schweigepflicht stehe, von der ihn E. auch nicht entbindet. Nach einem kurze Rechtsgespräch zwischen Richterin, Verteidiger und Vertreter der StA wird der Zeuge entlassen. So dass letztlich nicht weiter thematisiert wird, ob der Zeuge es tatsächlich unterlassen hat ein blaues Auge zu dokumentieren. Der Fall wird im Verlauf der Sitzung eingestellt.

Es ist schon 12 Uhr vorbei, da beginnt die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer und wird am Ende eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten fordern, welche allerdings zur Bewährung auszusetzen sei. Pro aus Sicht der StA erwiesener Beleidigung seien 6 Wochen Haft angemessen, in einem

Fall, als E. einen Beamten als „Nazi“ bezeichnet und diesem gegenüber den Hitlergruß gezeigt habe sollten es 15 Wochen Freiheitsstrafe sein.

Zwar sei die Stressituation in Haft strafmildernd zu berücksichtigen, jedoch fordere die Situation in Haft „besondere Disziplin von den Gefangenen“, ,gerade „in einer JVA (dürfe man sich nicht) dazu hinreißen lassen“ Bedienstete zu beleidigen. Vielmehr sei es „Pflicht der Gefangenen sich im Griff zu behalten“, so der Rechtsreferendar. In zwei Fällen sei E. aber auch freizusprechen, da die Beleidigungen nicht sicher hätten nachgewiesen werden können.

Der Verteidiger beginnt sein Abschlussplädoyer mit einer generellen Kritik: es sei bedenklich, wenn man für einfache Beleidigungsdelikte Freiheitsstrafen erhänge. Schließlich hätte die StA selbst, die ja den hier nun verhandelten Strafbefehl selbst so beantragt hatte, nur eine Geldstrafe für erforderlich erhalten, jetzt aber plötzlich beantrage sie eine Freiheitsstrafe. Er betont die zahlreichen strafmildernden Faktoren: E. habe sich entschuldigt, einige der Beamten hätten gar kein

eigenes Strafverfolgungsinteresse, zudem sei er Suchtkrank. Zudem seien die Verhältnisse im Strafvollzug kritikwürdig. Was die Ersatzfreiheitsstrafen angehe, so fordere auch der Deutsche

Anwaltsverein deren Abschaffung, man habe es hier mit einer „Armen/Reichen-Rechtssprechung“ zu tun: (Lebens-)Zeit und Geld seien nicht dasselbe! Für die verhandelten Vorwürfe fordere er eine milde Strafe unter 150 Tagessätzen, eine Freiheitsstrafe sei nicht angemessen. Zumal sein Mandant schon vollzugsintern bestraft worden sei. In zwei Fällen möge das Gericht E. freisprechen, hier schließe er sich dem Antrag der StA an.

In seinem Schlusswort verweist E. auf sein Eingangsstatement. Jetzt, so kurz vor dem Urteil, beginne das typische „Justizlotto“.

Nach kurzer Unterbrechung verkündet gegen 13:15 Uhr die Richterin das Urteil: es wird eine Gesamtstrafe von 100 Tagessätzen je 5 €, also von 500 €, verhängt. In zwei Fällen wird E. freigesprochen. Es gebe viele zu Gunsten von E. sprechenden Umstände. Teilweise sei er geständig gewesen, habe sich entschuldigt, sei in der Haft schon intern bestraft worden.

Auch habe die Pandemie die Haftsituation zusätzlich verschärft.

Verschärfend seien die einschlägigen Vorstrafen wegen Beleidigung zu werten und die Bezeichnung eines Beamten als „Nazi“.

Um kurz vor halb zwei endet die Verhandlung. Die Sonne scheint, E. werden wieder Handschellen angelegt, die Fußketten waren ihm während der ganzen Verhandlung nicht abgenommen worden. In einer kurzen Prozesspause drehte er sich einmal in Richtung des unvergitterten Fensters und

schaute hinaus- ins Freie. Zwei Gerichtswachtmeister führen ihn jetzt, wo die Verhandlung geschlossen ist, aus dem Raum, die stählernen Fußketten klirren. Verteidiger und Richterin sprechen noch kurz über eine Verhandlung in anderer Sache, bevor auch sie den Saal verlassen.

Ich war der einzige Zuschauer während des gesamten Prozesses.

Thomas Meyer-Falk

https://www.freedomforthomas.wordpress.com