Hat der Shutdown nichts gebracht? + Update

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Hat der Shutdown nichts gebracht? + Update

Die Bild Zeitung nimmt mit ihrer Kritik an den Infektionsschutzmaßnahmen wieder volle Fahrt auf. Als einigermaßen vorzeigbaren und generell medizinisch fachkundigen Zeugen hat sie den Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen gefunden. Ihn zitiert die Bild mit den Aussagen: „Der Lockdown, der jetzt seit Anfang November anhält, hat quasi nichts gebracht“ und „Die Todeszahlen sind unverändert erschreckend hoch. Der Schutz der Risikogruppen ist immer noch beschämend schlecht.“

 

Nun ist der Autor weit entfernt davon, von der Corona-Politik von Bund und Ländern in diesem Herbst begeistert zu sein. Die Misere nahm schon Ende September erkennbar Anlauf, Mitte Oktober wollte dann Merkel erstmals wirklich schärfere Maßnahmen und wurde von den Länderchefs komplett ausgebremst. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte in einem Interview, das am Tag der Besprechung erschien, dass keine weiteren Maßnahmen notwendig wären: „keine Hysterie bitte!“ Zwei Wochen später hatten sie es dann begriffen. Doch auch was Merkel vorschlug war zu kleinteilig, kompliziert und halbherzig. Spahn rühmte den „Wellenbrecher-Lockdown“ Mitte November als Erfolg und übertrieb damit gefährlich. Doch da waren alle Ministerpräsident*innen schon bald im Weihnachtsversprechens-Fieber. Härte wurde zunächst nur beim Böllerverbot gefordert, als sei das das einzige Problem. Die Bahn versprach gleich 100 zusätzliche Züge. Als dann wieder der Ordnungsruf von den Zahlen kam, ließ man das Volk sich noch zwei Tage zum Geschenkeeinkauf in den Geschäften stapeln.

 

Doch die Frage ist nicht, ob man es hätte besser machen können – das ohne Zweifel – sondern ob die Maßnahmen wie behauptet nichts gebracht haben.

 

Im Oktober stiegen die Infektionen exponential an. Erst lokale Gegenmaßnahmen in den schlimmsten Hotspots und dann der Shutdown light führten Anfang November zu einem Stopp des Wachstums. Die Zahlen gingen leicht zurück, blieben aber gefährlich hoch. Das führte zunächst zu einer Verlängerung des Shutdown light. Trotzdem nahmen die Zahlen ab dem 4. Dezember wieder die Fahrt nach oben auf.

 

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Warum dieser Umschwung kam, ist nicht sicher zu sagen. Der Autor hat versucht, das seinerzeit mit einem mathematischen Modell zu erklären. Demnach kann ein Shutdown light rein rechnerisch zu einem Absinken führen, auf das wieder ein starker Anstieg folgt. Kommt es nämlich dazu, dass der Shutdown in manchen Gebieten zu einer Verringerung führt, in anderen Gebieten, aber noch immer ein nur etwas gebremstes Wachstum herrscht, so führt das automatisch dazu, dass die Gebiete wo die Wirkung zu schwach ist, irgendwann die Führung übernehmen, weil sich die überwiegende Zahl der Fälle dorthin verlagert hat. Sie wirken nun als Wachstumsmotor und stecken durch die Fluktuation der Bevölkerung auch andere Gebiete wieder verstärkt an. Das gleiche gilt für unterschiedliche Wirkungen in sozialen Gruppen. Ob das wirklich der Grund war, ist offen. Es wäre auch möglich, dass die Virusvariante aus Großbritannien bzw. die aus Südafrika der Treiber war. Weil in Deutschland Mutationen zu wenig untersucht werden (auch hier Kritik am Gesundheitsministerium) und diese Untersuchungen natürlich schwerpunktmäßig bei Menschen vorgenommen werden dürften, die aus den betreffenden Ländern kommen, ist eine unbemerkte heimische Verbreitung nicht auszuschließen.

 

Der Anstieg ließ sich vor den nahen Weihnachtstagen nichtmehr definitiv stoppen. Über die Feiertage gingen dann die Zahlen stark zurück. Das war aufgrund von weniger Testungen auch so zu erwarten. Auch ein starker Anstieg Anfang Januar war, sowohl aufgrund verspäteter oder verspätet gemeldeter Tests, als auch aufgrund von mehr persönlichen Kontakten über Weihnachten und Sylvester zu erwarten. Doch bisher hat die Kurve die Höhe von vor Weihnachten nicht wieder erreicht. Der Wochendurchschnitt bei den positiven Tests hatte seinen Höhepunkt am 22. Dezember mit ca. 25500. Im Moment schwankt er zwischen 20 000 und 21 000. Die jüngsten Zahlen sprechen für einen erneuten Rückgang, sind aber noch zu wenige für eine sichere Aussage. Es sieht aber nicht aus, als würden wir bei einer Fortsetzung des steilen Anstiegs vor Weihnachten landen. Legt man den Anstieg zwischen dem 12. und dem 22. Dezember von 21,5 % (eigene Berechnung) zugrunde, so wären wir am 12. Januar auch ohne Erhöhung durch Weihnachtsbesuche und Sylvesterparties ungefähr bei 37 700 Fällen gelandet.

 

Betrachtet man den ersten Shutdown light und nimmt man als Ausgangspunkt den 1. November und vergleicht mit dem 22. Oktober, so bekommt man einen Anstieg von 121,8 %. Damit wären wir bereits am 1. Dezember bei über 160 000 Fällen gewesen (wer nachrechnen will, der Wochendurchschnitt am 1. Nov. war 14 821, am 22. Okt. 6682).

 

Zusammenfassend lässt sich sagen: Auch wenn erhebliche Fehler gemacht wurden, haben die beiden Shutdowns doch wenigstens dafür gesorgt, dass die Lage bei den Infektionen in etwa gleich geblieben ist. Dass die Todeszahlen nun wesentlich höher sind als Anfang November lässt sich durch die Zeitverzögerung erklären, in der die Patient*innen noch um ihr Leben ringen. Sie sind die Folge einer zu zögerlichen Politik. Jedenfalls hatten beide Stufen des Shutdowns an den Zahlen erkennbare Auswirkungen. Der Vorwurf von Herrn Gassen, dass für die Risiko-Gruppen nicht genug getan wurde, mag zutreffen oder auch nicht, so pauschal ist er auch billig. Die von der Ständigen Impfkommission empfohlene und von der Bundesregierung und den Ländern umgesetzte Impfpolitik spricht gegen eine pauschale Vernachlässigung der Risiko-Gruppen.

 

Kritik an vielem ist berechtigt, aber die Sinnhaftigkeit staatlicher Seuchenschutzmaßnahmen, inklusive der gerade geltenden, generell in Frage zu stellen ist unverantwortlich. Es ist auch ein Irrweg so wie es Gassen nun mal wieder in der Bild tut und etliche vorher, zu behaupten, es käme doch auf die Einzelnen an, nicht auf die staatlichen Maßnahmen. Davon stimmt allenfalls die erste Hälfte. Dass eine Politik, die sich auf Appelle an die Bevölkerung beschränkt, alleine nicht zu einer Trendwende führt, konnte man hierzulande im Oktober beobachten. Auch Schweden musste seine Politik letztendlich ändern.

 

Wer wissen möchte, wie es hätte aussehen können, wäre der Shutdown light im Dezember gelockert worden, anstatt verschärft, kann sich mit dem unten stehenden Link die Erfahrungen aus Irland ansehen. Sicher hat da auch die Virus-Mutation aus Großbritannien eine Rolle gespielt, aber vor der sind wir ja auch nicht sicher.

 

https://edition.cnn.com/2021/01/12/europe/ireland-covid-rate-intl/index.html

 

jk

Update 16. 1.: Dass die Zahl der Infektionen tatsächlich sinkt, hat sich in den letzten Tagen bestätigt. Die Zahl der schweren Erkrankungen und Todesfälle ist aber noch immer sehr hoch. Da auch die Belegung der Intensivbetten etwas zurückgeht, ist auch da mit einer Besserung zu rechnen. Trotzdem haben viele für die zögerliche Einleitung von Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung mit Leben oder Gesundheit bezahlt. Einen gewissen Anteil daran dürften auch all die lauten Corona-Verharmloser*innen haben. Trotz eines klaren Abwärtstrends bei den Infektionszahlen kann ein verschärfter Shutdown wegen der neuen Mutationen noch immer sinnvoll sein - am besten auf europäischer Ebene.

By the way: Ist eigentlich schon jemandem aufgefallen, dass BaWü mittlerweile sogar auf den letzten Platz bei den Impfungen zurückgefallen ist. Können's Schwäbinnen und Badenser einfach nicht oder was ist da los?