Europäisches Parlament stimmt letztendlich für abgeschwächten Giegold-Bericht: Christdemokraten einsam als radikale Verteidiger des wilden Lobbyismus

Christdemokraten einsam als radikale Verteidiger des wilden Lobbyismus

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Plenarsaal des EU-Parlaments in Strasbourg
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Wikipedia/J. Patrick Fischer, CC BY-SA 3.0

Am gestrigen Donnerstag hat das Europäische Parlament einen Bericht verabschiedet, der Transparenz darüber schaffen soll, welchen Einfluss Lobbyisten auf die Gesetzgebung in der Europäischen Union haben. Das Vorhaben namens "Transparenz, Rechenschaftspflicht und Integrität in den EU-Organen » hatte der Grüne Europaabgeordnete Sven Giegold getragen.

Radio Dreyeckland hat ihn kurz vor der Abstimmung interviewt, also als es noch nicht klar war, ob und mit welchen Änderungen der Bericht verabschiedet wird.

Mehr Informationen über das Ergebnis der gestrigen Abstimmung und die Forderungen gab Matthieu am Freitag im Morgenradio.

 

Manuskript des Beitrags:

Vielfältige Forderungen

Der Bericht "Transparenz, Rechenschaftspflicht und Integrität in den EU-Organen » des Grünen Europaabgeordneten Sven Giegold befasst sich mit zahlreichen Aspekten der Ethik für Politikerinnen und Beamten und des Lobbyismus.

Einige Forderungen beziehen sich auf das Europäische Parlament selbst. Andere wenden sich an weitere Agenturen und Institutionen der EU, vor allem die Kommission als regierende Institution und die Vertreterinnen der Mitgliedstaaten im Rat, also die andere Parlamentskammer der EU. Einige Paragraphen im Bericht sind Forderungen, die die entsprechenden Organisationen umsetzen müssen, während andere Paragraphen eher Empfehlungen an andere Institutionen sind. Zum Beispiel werden die Vertreterinnen der Mitgliedstaaten im Rat dazu aufgefordert, endlich auch Treffen mit unregistrierten Lobbyisten zu verbannen.

Konkret fordert das Europäische Parlament folgendes. Lobbyisten sollen nur noch Zugang zum Parlament erhalten, wenn sie sich vorher im sogenannten Transparenzregister registrieren lassen. In diesem Transparenzregister müssen die Personen und Organisationen Angaben zu ihren Finanzen und Kunden machen. Dadurch soll zum Beispiel sichtbar werden, wessen Interessen eine Anwaltskanzlei oder eine Scheinorganisation eigentlich vertritt.

Bei allen Beschäftigten der Kommission, die sich an politischen Prozessen beteiligen, soll die Kontrolle deutlich weiter gehen. Die Europaabgeordneten fordern, dass sie ihre Treffen mit Lobbyisten offenlegen. So soll sichtbar werden, wie oft sich die Kommission mit welchen Interessengruppen getroffen hat. Das soll gegebenenfalls aufzeigen, falls sich die Kommission überdurchschnittlich viel mit bestimmten Interessengruppen trifft.

Ausserdem sollen sich die sogenannten Drehtüren für Kommissare und das relevante Personal der EU-Kommission langsamer als bislang drehen. Mit Drehtür ist die Praxis gemeint, dass Politiker und Beamtinnen in die Wirtschaft wechseln oder selbst Lobbyisten werden. Dadurch werden sie mit Karrierechancen nachträglich dafür belohnt, dass sie während ihrer Amtszeit Privatinteressen begünstigt haben. Bislang durften Kommissare anderthalb Jahre lang nach ihrer Amtszeit abkühlen, wie es heisst, also nicht auf politisch relevante Posten in die Wirtschaft wechseln. Künftig soll es drei Jahre lang so sein, fordern die Europaabgeordneten.

Abgesehen von der direkten Regulierung von Lobbyismus fordert das Europäische Parlament mehr Transparenz bei politisch relevanten Dokumenten. Es fordert Einsicht in Dokumente zu laufenden Handelsverhandlungen. Es fordert die Veröffentlichung von Dokumenten aus den Beratungen der Mitgliedstaaten im Rat der EU und aus den sogenannten Trilog-Verhandlungen, bei denen Gesetzeskompromisse zwischen Kommission, Rat und Parlament gefunden werden. Schliesslich fordern die Europaabgeordneten Massnahmen zum Schutz von Whistleblowern.

 

Isolierte Christdemokraten und viele Abwesenden

368 Abgeordneten stimmten für den Text. Das ist zwar an sich nicht einmal die Hälfte aller Europaabgeordneten, aber eine deutliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Zum Vergleich: Rund 160 Abgeordnete stimmten dagegen, und 60 enthielten sich. Macht zusammen knapp 590 Stimmen. Sprich: Weitere rund 160 Abgeordneten waren wohl gerade fischen, anstatt zu ihrer eigenen Ethik und Transparenz Stellung zu nehmen.

Besonders interessant bei der Abstimmung: Ausgerechnet die Christdemokraten, die grösste Fraktion, die meistens mit wechselnden Mehrheiten die Gesetze verabschiedet, standen mit ihrer Ablehnung alleine da – wobei viele von ihnen sich auch enthielten oder schlicht abwesend waren. Für den Entwurf stimmten die Fraktionen der Linken, Grünen, Liberalen und der EU-kritischen Konservativen, sowie Teile der übrigen EU-feindlichen und rechtsextremen Fraktionen.

 

Legislativer Fussabdruck und andere geschwächte Vorschläge

Grüne, Sozialdemokraten und Linke begrüssten das positive Votum als wichtigen Schritt für mehr Transparenz. Sie bemängelten aber, dass Sven Giegolds ursprünglicher Vorschlag auf dem Weg durch das Parlament geschwächt wurde.

Eine der ursprünglichen Forderungen, die geschwächt wurde, ist der sogenannte "legislative Fussabdruck". Damit meinen die Grünen, dass es nachprüfbar sein sollte, von welcher Interessengruppe Beiträge zum Gesetzgebungsprozess und Textbausteine im Gesetz stammen. Die grundlegende Absicht hinter dem ursprünglichen Vorschlag erklärte der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Philippe Lamberts, am Dienstag bei seiner Pressekonferenz:

"Wenn zum Beispiel Monsanto oder sonst wer fünfzehn - oder zweihundertfünfzig - Änderungsanträge zu einem Gesetzestext schreibt, und sie an Abgeordnete, an den Rat  oder an die Kommission weiterreicht, dann sollte sowas veröffentlicht werden! Das nennt man den legislativen Fussabdruck." 

So die Absicht. Doch bereits als der Bericht den Verfassungsausschuss passierte, wurde aus dieser vorgeschlagenen Pflicht für Europaabgeordnete, ihre Kontakte mit Lobbyistinnen zu veröffentlichen, nur noch eine Empfehlung. So zeigte sich Philippe Lamberts verärgert, dass es diese Pflicht nicht einmal für die Berichterstatterinnen gebe, also die Abgeordneten, die einen Gesetzentwurf tragen:

"Man ist nur bereit zu schreiben: "Auf freiwilliger Basis darf der Berichterstatter oder die Berichterstatterin die Beiträge veröffentlichen, die er bekommen hat." Naja! Was haben sie denn zu verstecken?"

In diesem Fall wie bei den anderen Punkten hatten vor allem die Christdemokraten, unterstützt von den Liberalen und von den EU-kritischen Konservativen, die Transparenzforderungen geschwächt. Der geschwächte Bericht passierte den Verfassungsausschuss im März 2017. Seitdem haben die Christdemokraten und Liberalen eine endgültige Abstimmung im Plenum wohl hinausgezögert, bis diese Woche.

 

Der Bericht stellt Transparenz- und Ethikforderungen an allen EU-Institutionen. Das betrifft also besonders die EU-Kommission als regierende Institution, sowie die beiden Parlamentskammern der EU also das Europäische Parlament und die Vertreterinnen der Mitgliedstaaten im Rat der EU. Doch die Europaabgeordneten schwächten besonders die Massnahmen im Bericht, die sich auf sie selbst als Mitglieder des Europäischen Parlaments beziehen.

Philippe Lamberts prangerte diesen fehlenden Willen der Abgeordneten an, die Transparenzpflicht im eigenen Haus anzuwenden:

"Im Parlament hat man die Macke, alles bestimmen zu wollen, was die Kommission und den Rat angeht. Aber wenn es um uns selbst geht, dann wird das Parlament plötzlich weniger tatkräftig, weniger begeistert. Zum Beispiel, die Idee, dass die Abgeordneten die Liste der Leute veröffentlichen sollten, mit denen sie sich treffen, wird als unzumutbarer Eingriff in die Privatsphäre wahrgenommen... Ich stelle aber fest, dass die meisten dieser Abgeordneten kein Problem darin sehen, dass man alle Daten aller Passagiere auf allen Flügen sammelt. Und das soll kein unzumutbarer Eingriff in die Privatsphäre sein."

Eine Doppelmoral der konservativen Europaabgeordneten also, die die Massenüberwachung ständig erweitern, aber sich selbst nicht zur Transparenz verpflichten wollen.

Auch der Grüne Berichterstatter Sven Giegold bedauerte in einer Pressemitteilung, dass die Mehrheit der Europaabgeordneten seinen Bericht geschwächt und letztendlich niedrigere Transparenzstandards für sich selbst als für Beschäftigte der EU-Kommission beschlossen haben. Während die Europaabgeordneten zum Beispiel forderten, die sogenannte Abkühlzeit von Kommissaren zwischen Politik und Karriere in der Wirtschaft zu verlängern und auf mehr Beschäftigte der Kommission auszuweiten, lehnten konservative und liberale Parlamentarierinnen jede noch so kleine Abkühlzeit für sich selbst ab.

 

Ein Journalist bat den Fraktionsvorsitzenden der Christdemokraten am Dienstag um Details zu den Änderungsanträgen seiner Fraktion und konfrontierte ihn mit Sven Giegolds Kritik, wonach diese Vorschläge die Forderungen schwächen würden. Der CSU-Politiker Manfred Weber antwortete wie immer freundlich, gab aber überhaupt keine Details über seine Änderungsanträge.

Manfred Weber, übersetzt aus dem Englischen:

"Die EVP-Fraktion befürwortet mehr Transparenz. Es ist notwendig in den Zeiten, in denen wir heute leben. Die Leute fragen uns und wollen von uns mehr Klarheit darüber, was wir dort machen. Deswegen unterstützen wir die generelle Idee.

Die konkreten Vorschläge, die wir auf den Tisch legen, sind Klarstellungen und sind Punkte, bei denen wir einen mittleren Weg finden. Wir als Europaabgeordnete müssen die Möglichkeit haben, zu verhandeln und Lösungen zu finden.

Die endgültige Entscheidung, ob wir dafür stimmen werden oder nicht, ist noch nicht klar. Denn wir brauchen von den Grünen und von den anderen Fraktionen auch den Willen, einen vernünftigen Kompromiss in dieser Hinsicht zu finden."

Sprich: Bloss keine Aufregung, es geht uns nicht darum, die Kontrolle von Lobbyisten zu schwächen oder zu unterminieren, sondern bloss um Klarstellungen. Wir unterstützen generell die Transparenzforderung, aber stimmen letzten Endes trotzdem dagegen.

Und was bei keinem CDU-Satz fehlen darf: Wir sind natürlich die verkörperte Mitte, die Vernunft, und es sind Kompromisse nötig, egal worum es geht. Wir sind auch dann die goldene Mitte, wenn alle Fraktionen ausser uns von links nach rechts für eine bereits geschwächte Transparenzforderung stimmen. Wir sind auch dann die Vernunft, wenn wir uns dagegen stemmen, den Einfluss von Wirtschaftslobbyisten einzudämmen. Und wir suchen natürlich auch dann nach Kompromissen, wenn sich alle ausser uns längst einig sind.

 

Übrigens: Die Christdemokraten sorgten für Aufmerksamkeit mit einem Änderungsantrag, wonach Nichtregierungsorganisationen eine Gesinnungsprüfung durchlaufen müssten, bevor sie EU-Gelder bekommen können. Konkret forderte der CDU-Abgeordnete Markus Pieper, EU-Gelder dürften nur diejenigen Organisationen bekommen, die auf der Basis überprüfbarer Fakten argumentieren.

Doch weil eine solche Prüfung und die Auslegung von "überprüfbare Fakten" von staatlichen Behörden abhängen würde, hätte es das Risiko von staatlicher Einflussnahme auf die Zivilgesellschaft geborgen. Der Europaabgeordnete Jo Leinen von der SPD erklärte deswegen zum Änderungsantrag seines CDU-Kollegen:

"Offensichtlich hat man sich in der Union ein schlechtes Beispiel an Parteifreund Viktor Orbán genommen.“

Auch bei diesem Änderungsantrag blieben die Christdemokraten gestern isoliert und ohne Mehrheit.