China im Zeichen der Krise – Einzelschicksale aus dem Reich der Mitte bewegen das Cannes-Publikum !

China im Zeichen der Krise – Einzelschicksale aus dem Reich der Mitte bewegen das Cannes-Publikum !

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Das glitzernde Foyer des Festivalpalastes in Cannes
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China im Zeichen der Krise – Einzelschicksale aus dem Reich der Mitte bewegen das Cannes-Publikum !

 

Immer wieder wird man gefragt - und fragt sich selbst -, ob die Filme auf einem Festival irgendwie einen roten Faden haben, ob sich eine Tendenz abzeichnet, es eine wie auch immer geartete inhaltliche Gemeinsamkeit gibt.
Das ist natürlich sehr schwer zu beantworten, da alle großen Filmfestivals hunderte von Filmen vorstellen, mit den Kurzfilmprogrammen kann das sogar eine vierstellige Anzahl werden, und die Mischung aus westlichen und internationalen Produktionen, aus Spielfilmen, Dokumentationen, experimenteller Filmkunst und Wiederaufführungen von restaurierten Klassikern macht es meienr Ansicht nach zu einer sehr großen Herausforderung, in dieser unüberschaubaren Menge bestimmte inhaltliche Schwerpunkte zu entdecken.

Aber es wäre natürlich fast ein Wunder, würden die globale Wirtschaftskrise, die ökonomische Verunsicherung, die radikale Reduktion sozialer Sicherungssysteme oder die in vielen Ländern steigende Arbeitslosigkeit keine Spuren in den Geschichten der aktuellen Produktionen hinterlassen.

Ich habe eben zwei interessante Filme aus China bzw. aus Hong Kong gesehen, die sich beide auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit den Auswirkungen der Krise, aber auch der hemmungslosen wirtschaftlichen Liberalisierung in China beschäftigen.

Der eine davon mit dem Titel « Tian Zhu Ding » (« A touch of sin ») des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke läuft im offiziellen Wettbewerbsprogramm, es ist ein Episodenfilm, der vier ganz unterschiedliche Geschichten erzählt.
Unter anderem geht es um einen Minenarbeiter, der genug hat von der Korruption seiner Vorgesetzten und den bestechlichen Ortsvorstehern, die käuflich sind und einem reichen Bürger das lukrativste staatliche Unternehmen des Ortes für einen geringen Preis verkauft haben. Alle Einnahmen fließen nun nicht mehr in die allgemeine Stadtkasse, sondern in die Taschen des Unternehmers, der zu einem Besuch seiner Heimatstadt sogar mit einem Privatflugzeug anreist.
Es ist für mich sehr erstaunlich, dass ein Film, der so deutlich die Korruption der regionalen Politiker angreift, in China durch die Zensur kam.
Die fürchterlichen Arbeitsbedingungen der armen Wanderarbeiter, die Perspektivlosigkeit der jungen Leute auf Arbeitssuche, die Zerstörung der Umwelt durch immer weiter ausufernde Industrieanlagen und die Ausbeutung junger Frauen, die unter falschen Versprechungen in die Großstädte gelockt werden, um dort als Prostituierte für die Neureichen zu arbeiten, geduldet von bestochenen Polizisten und Politikern, alles das wird offen thematisiert und zugleich mit viel Energie und sehr stimmigen Bildern packend umgesetzt. Sodass der Film trotz des harten Stoffes durchaus auch ein ästhetisches Erlebnis ist, bei dem sich verstörende Szenen, wunderbare Landschaftsbilder, einige wenige, aber heftige Gewaltszenen, aber auch humorvolle Momente ablösen, gepaart mit jenem langsamen Erzählrhythmus, der im asiatischen Arthouse-Kino nicht selten ist.

Der zweite Film läuft in der Sektion « Un certain regard » und heißt « Bends », gedreht hat ihn die junge chinesische Regisseurin Flora Lau, die dieses Jahr erstmalig in Cannes mit einem Film vertreten ist.
Ihr Werk ist völlig anders aufgebaut als der eben besprochene Film « A touch of sin », sie erzählt von zwei Einzelschicksalen im Grenzgebiet zwischen Shenzen in China und Hong Kong.
Fai, ein junger Mann, arbeitet als Chauffeur für eine sehr reiche Dame aus Hong Kong, der Gattin eines der ganz Großen aus der Finanzwelt. Diskretion und Unterwürfigkeit gehören zu seinem Job selbstverständlich dazu, er begleitet die Frau durch ihren Alltag, Gespräche oder Nähe zwischen Chauffeur und Chefin sind nicht vorgesehen oder üblich.
Aber Fai steckt in Schwierigkeiten: Er und seine Familie leben im Festlandchina, er überquert zwar täglich die Grenze in die Finanzmetropole, aber seine Frau und Tochter leben in China. Und seine Frau ist schwanger. Die Strafgebühr für das zweite Kind können sie sich mit Fais niedrigem Gehalt nicht leisten, und verheimlichen können sie es auch kaum, denn in dem Wohnblock, in dem sie leben, läßt sich nichts lange vor Blicken der neugierigen Nachbarn verstecken, außerdem sind die Krankenhäuserbetten auch alle langfristig belegt. Entbinden könnte seine Frau also höchstens in einer sündhaft teuren Privatklinik, die weit außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt.
In größter Verzweiflung beschließt Fai daher, seine Frau im Kofferraum der Limousine seiner Chefin über die Grenze zu schmuggeln, damit sie ihr Kind illegal in Hong Kong bekommen.

Die diesjaehrige Jury der Programmsektion

Aber auch seine Chefin Anna hat Schwierigkeiten, die sie vor ihren reichen Freundinnen zunehmend schlechter verstecken kann: Ihr Mann ist verschwunden, er scheint sich verspekuliert zu haben, seit Tagen ist er unauffindbar, ihre Kreditkarten werden nach und nach gesperrt, das Bankkonto leert sich bedrohlich, und eines Tages taucht ein Makler auf und will die Wohnung, in der sie lebt, verkaufen.
Die bis dato sorglos lebende Dame, die sich ganz dem Leben und den luxuriösen Vergnügen der Oberschicht hingegeben hatte, muss plötzlich sparen, ohne recht zu wissen, wie das eigentlich geht. Sie läßt sich von ihrem Chauffeur zu einem einfachen Straßenimbiss kutschieren, trägt ihre Gemälde zu einem Auktionshaus und muss mit den immer knappen werdenden Reserven jonglieren, damit ihre Umgebung nicht merkt, dass sie längst völlig pleite ist.
Es ist kein Wunder, dass Chefin und Chauffeur sich in ihren parallelen Notsituationen menschlich zum ersten Mal näher kommen – aber für Fai ist die Schwangerschaft seiner Frau und das Wohlergehen seiner kleinen Familie viel wichtiger als die Nöte seiner finanziell bedrängten und einsam gewordenen Chefin.

Zwei sehr unterschiedliche Perspektiven, zwei ganz unterschiedliche Stile, doch beide Filme haben auf eine interessante Weise Gemeinsamkeiten und ergänzen sich gegenseitig wunderbar, um ein Bild des heutigen Chinas im Zeichen der radikalen Umbrüche, der Krise und der sozialen Erosion zu zeigen. Die Reaktionen des Publikums bei den beiden Premieren zeigen, dass beide Filme die Zuschauer bewegt und mitgerissen haben. Ich hoffe sehr, dass sich ein tapferer Filmverleih findet, der die beiden Werke in den deutschsprachigen Kinomarkt bringt, und sie nicht wie so viele andere spannende und aussagekräftige Festivalfilme auf Nimmerwiedersehen im Nirvana der Filme ohne Verleih verschwinden.

Alexander Sancho-Rauschel