Ausschreitungen nach Mord an Nahel : Ermittlungen wegen vorsätzlicher Gewalt gegen Sondereinheit RAID

Ermittlungen wegen vorsätzlicher Gewalt gegen Sondereinheit RAID

Wegen „vorsätzlicher Gewalt mit einer Arbeitsunfähigkeit von über acht Tagen durch eine Amtsausübende Person und unter Einsatz einer Waffe“ hat die Staatsanwältin Catherine Galen, vom Amtsgericht Val-de-Briey ein Verfahren gegen Unbekannt eröffnet, und die Ermittlungen sogleich nach Nancy weitergereicht. Es geht um den Fall eines weiteren Einsatzes von „weniger tödlichen“ Sonderwaffen durch Polizeieinheiten, deren möglicherweise tödlicher Verlauf zu Monatsbeginn in Marseille aufs Neue traurig belegt wurde. Es geht um die Geschichte von Aimène Bahouh aus Lothringen, der seit dem 29. Juni weiterhin im Koma liegt, weil ihm Polizisten ins Gesicht geschossen haben.

Ein Einsatz des Spezialkommandos RAID aus Metz war am dritten Tag der Ausschreitungen in Mont-saint-Martin in der Lorraine aus dem Ruder gelaufen. Die Beamten hatten einen sogenannten „Beanbag“ an den Kopf des 25-jährigen Autofahrers geschossen, als dieser mit Freunden zum Einkaufen fuhr. Aimène musste umgehend in die Notaufnahme von Arlon nach Belgien verbracht werden. Es gibt keine Aufzeichnungen des Einsatzes. In sozialen Netzwerken kursierten Bilder, die die verwendeten „Beanbags“ als Netz voller Bleikugeln darstellen. Augenzeugen aus Lyon berichten, die SEKs haben solche Munition in der betreffenden Nacht auch an der Rhône verwendet.

Der im Dreiländereck zu Belgien und Luxemburg gelegenen Kleinstadt waren die Unruhen, die auf die polizeiliche Erschiessung Nahels Merzouks in Nanterre folgten, nicht erspart geblieben. Es gab Scharmützel im Umfeld einiger Plattenbauten – ein Kulturzentrum und das Rathaus wurden während der Proteste angezündet. Noch kurz vor dem 14. Juli brannte eine Grundschule in Mont-Saint-Martin, die Stimmung bleibt angespannt.

Die Rathausspitze zeigte sich bestürzt und appelliert an die Staatsspitze. Die Region würde für die Zentralregierung „nicht existieren“. Für viele ist die Distanz zwischen der Reigerung und großen Teilen der prekarisierten Bevölkerung eine Hauptursache der Unruhen. Seit Jahrzehnten hat sich die Situation in den Vorstädten nicht verbessert. Polizeiliche Übergriffe haben sich in den vergangenen Jahren normalisiert und werden von den Vereinten Nationen laut ihrem jüngsten Bericht als strukturell rassistisch betrachtet.

Eine frankreichweite Niederschlagung der Aufstände erfolgte Ende Juni mit aller Härte: Der Staat nahm innerhalb von vier Tagen über 3.000 Personen fest und die beschleunigten Justizverfahren führten mittlerweile zu über 1.000 Verurteilungen, größtenteils mit Haftstrafen ohne Bewährung. Auch die massive Polizeigewalt auf der Straße bleibt Gegenstand der öffentlichen Kritik. Die Ordnungsdoktrin führte zum landesweiten Einsatz von „Sonderkommandos“ der Einheiten RAID, GIGN und BRI – oftmals agierten diese völlig unangemessen und griffen offenbar auch grundlos PassantInnen an. ZeugInnenaussagen zufolge war Aimène an den Protesten vollkommen unbeteiligt, als der RAID auf das Fahrzeug schoss. Seine Angehörigen fordern „Aufklärung und Gerechtigkeit“. Ob das mögliche Verfahren der Staatsanwaltschaft Nancy und die Aussagen der Kollegen des Polizei-Schützen Aufklärung bringt, wird von BewohnerInnen der moselaner Kleinstadt angezweifelt.