Kontroverse Diskussion nach Interview mit Jürgen Grässlin: Antimilitarismus = Pazifismus?

Antimilitarismus = Pazifismus?

Ein am 28. April ausgestrahltes Interview mit dem Friedensaktivisten Jürgen Grässlin (Landesweiter ziviler Widerstand nach Butscha?) und ein anschließender Kommentar (Über die Grenzen gewaltfreier Strategien muss diskutiert werden) von RDL Redakteur JK hat für einige Diskussion gesorgt. Was bedeutet Antimilitarismus in dieser Zeit? Bei Radio Dreyeckland herrscht hierüber, wenig erstaunlich, keine Einigkeit.

Jürgen Grässlin hat nach dem erwähnten Kommentar einen offenen Brief veröffentlicht. Den Brief und die, nach langer kontroverser Diskussion entstandenen Antworten der aktuellen Redaktion und der Betriebsgruppe von Radio Dreyeckland möchten wir an dieser Stelle, auch da uns zahlreiche Zuschriften zu diesem Thema erreicht haben, dokumentieren.

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Offener Brief an die Redaktion von Radio Dreyeckland Freiburg, den 6. Mai 2022

Quo vadis RDL? Auf dem Weg vom Antikriegs- zum Kriegsradio?

Sehr geehrte Damen und Herren von Radio Dreyeckland,

Ihr Sender bleibt stramm auf Waffenlieferungskurs im Ukraine-Krieg, wie der gestrige Kommentar Ihres Mitarbeiters (jk) vom 5. Mai auf eine Leser*innenzuschrift ein weiteres Mal belegt. Das verbale Nachtreten gegenüber der Friedensbewegung und en passant auch gegenüber meiner Person nimmt kein Ende. Bereits nach dem Freiburger Ostermarsch hatte RDL Aussagen vom Freiburger Ostermarsch vehement kritisiert; antimilitaristische Aussagen wurden und werden teilweise aus dem Zusammenhang gerissen.

Nach Ihrer kritischen Berichterstattung zum hiesigen Ostermarsch führte Ihr Redakteur JK ein als „Interview“ angekündigtes Gespräch mit mir, das sich durch seine Penetranz de facto zum Streitgespräch entwickelte. Zehn Minuten mit vier vorab eingereichten Fragen waren vereinbart, nach 25 Minuten habe ich meinerseits das konfrontative Streitgespräch beendet.

Ich habe Radio Dreyeckland in den letzten Jahren vielfach Interviews zu der Themen Frieden, Abrüstung und Entmilitarisierung, Rüstungsproduktion und -export gegeben, siehe u.a. https://rdl.de/suche?text=Jürgen+grässlin Diese waren ausnahmslos journalistisch fair und im Geiste des – seitens Ihres Senders selbstgesetzten Anspruchs – Antimilitarismus geführt.

Diese Zeiten scheinen nunmehr passé. Den Gesprächsstil besagten RDL-Redakteurs im Interview und in Kommentaren empfinde ich nicht nur als äußerst penetrant. Herr K ist augenscheinlich nicht in der Lage, eine – in meinem Fall antimilitaristische bzw. pazifistische – Position unkommentiert gelten zu lassen. Ich habe den Eindruck, dass Herr K. weitgehend die Friedenslogik verlassen hat und der Kriegslogik folgt. Wobei Herr K. im Interview auf meine Nachfrage hin seinerseits nicht einmal eine militärische Konfliktlösung aufzeigen konnte (11:40 Min) und zudem in einem NS-Vergleich von Konzentrationslagern in der Ukraine sprach (16:00 Min.) etc.

Vier Fragen wurden mir vorab zugesandt, die vierte seitens Herrn K nicht mehr gestellt (was an meinem Gesprächsabbruch liegen kann). Sie lautete: „Wir kennen Putin nun schon seit dem Tschetschenienkrieg hat nicht auch die Friedensbewegung ihren Teil dazu beigetragen, dass wir die Gefahr, die in diesem Mann bzw. seinem gewaltigen Militärapparat steckte bis zum 23. Februar 2022 nicht wirklich zur Kenntnis genommen haben? Muss sich in der Friedensbewegung etwas ändern?

Selbst im zweimaligen Interview in Berlin und Freiburg mit WELT-TV (aus dem Hause Axel Springer) wurde ich persönlich mit keiner vergleichbaren Unterstellung („hat nicht auch die Friedensbewegung ihren Teil dazu beigetragen“) konfrontiert. Ich sehe diese, aufgrund meines Abbruchs des Interviews, nicht mehr gestellte vierte Frage durchaus auch in der momentanen Linie der Berliner Ampelkoalition und ihres knallharten Aufrüstungs- und Waffenexportkurses. Auch deren Vertreter Alexander Graf von Lambsdorff, Stellv. Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag, Robert Habeck, Bundesminister BMWK, Olaf Scholz, Bundeskanzler, u.a. betreiben momentan in drastischer Form Friedensbewegungs- und Pazifisten-Bashing.

Seit den acht Wochen des Krieges in der Ukraine gebe ich als Bundessprecher mehrerer Friedensorganisationen bzw. Kampagnen (DFG-VK; RIB e.V., Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!) national wie international zahlreiche Interviews. Meine Zielsetzung dabei war und ist dabei, Wege aus diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der russischen Streitkräfte unter Führung von Wladimir Putin aufzuzeigen, der Eskalationsspirale von Gewalt und Gegengewalt entgegenzutreten, vor der Gefahr eines durchaus drohenden Atomkriegs zu mahnen, Konzepten der Friedensbewegung zur Konfliktlösung (Soziale Verteidigung, Konzept der unverteidigten Städte) und dem Völkerrecht (Internationaler Strafgerichtshof) eine Stimme zu geben.

Die mich interviewenden Journalist*innen verschiedener Radio- und TV-Sender sowie Zeitungen haben in ihren Fragestellungen zu Waffenlieferungen und zum militärischen Eingreifen in der Ukraine durchaus unterschiedliche Meinungen durchklingen lassen (mal pro, mal kontra). Genau so nehme ich auch die gesellschafte Debatte wahr. Kritische Fragen seitens der Journalist*innen sind wichtig und elementarer Teil der grundgesetzlich verbrieften Meinungs- und Pressefreiheit (Artikel 5 GG), die ich selbst in der gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem früheren Daimler-Chef Jürgen E. Schrempp bis zum Bundesgerichtshof mit Erfolg durchgefochten habe. Ich selbst bin seit vielen Jahren Mitglied eines Journalistenverbandes.

Aber keine*r der mich interviewenden Journalist*innen hat mich als Pazifist auch nur ansatzweise so hart angegangen, wie Ihr Redakteur K. Sollte sich Herrn K.s regierungs-, militär- und NATO-konforme Haltung in Ihrem – von mir bislang sehr geschätzten! – Sender durchsetzen, dann frage ich mich: Kann sich Radio Dreyeckland weiterhin als ein „antimilitaristisches“ Radio bezeichnen? Oder ist diese elementare friedensbewegte Position womöglich längst aufgegeben worden? Quo vadis Radio Dreyeckland?

Ihrer Antwort sehe ich mit großem Interesse entgegen.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Grässlin

PS: Ich leite Ihnen diese Mail zuerst zu, zeitnah danach werde ich meinen Mailverteiler für den Großraum Freiburg bedienen.

PS2: Bitte bestätigen Sie den Eingang dieser Mail.

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Lieber Jürgen,

wir haben in der Redaktionssitzung der Aktuellen Redaktion von Radio Dreyeckland über Deinen Offenen Brief und das darin kritisierte kontroverse Interview gesprochen.

Wir möchten grundsätzlich darauf hinweisen, dass wir keine einheitliche 'Redaktionslinie' haben, sondern  im Rahmen unserer Grundsätze eine Vielfalt an Beiträgen - auch zum Ukrainekrieg - produzieren und auch weiterhin eine Vielfalt an Sichtweisen zulassen wollen. Neben der Frage Waffenlieferungen ja/nein gibt es eine große Bandbreite an weiteren Aspekten, die uns wichtig sind. Du findest die Ukraine-Beiträge von RDL unter https://rdl.de/region/ukraine - darunter übrigens z. B. ein Interview zum Thema zivile Verteidigung:https://rdl.de/beitrag/diese-streiks-finden-jetzt-bereits-statt-gegen-den-invasionskrieg-kriegsmittel-bestreiken

Wir finden es wichtig, dass in unserem Sender auch harte Kontroversen zu hören sind. Es ist Jan nicht vorzuwerfen, dass er Dir Gegenargumente vorhält - im Gegenteil könnte das sogar als Chance verstanden werden, die eigene Position besonders präzise darzulegen und aufzuzeigen, wo die Schwachstellen der Vorhaltungen des Interviewenden sind. Mehrere Rückmeldungen lauteten tatsächlich eher: Gerade das Kontroverse war interessant, beide Positionen sind zur Geltung gekommen.

Selbstverständlich musst Du Jans Gegenposition nicht teilen und auch bei uns gibt es unterschiedliche Auffassungen. Wir finden es aber problematisch, dass Du Deine Kritik an dem Beitrag mit der Ankündigung verknüpfst, Du würdest demnächst Deinen "Mailverteiler für den Großraum Freiburg bedienen". Das könnte suggerieren, dass wir nicht allein durch Argumente, sondern vom auszulösenden Shitstorm dazu gebracht werden sollen, einheitlich eine bestimmte Position zu vertreten. Du betonst selbst Deine Wertschätzung für die Freiheit des Journalismus, und ein kontroverses Interview gehört unserer Meinung nach dazu.

Viele Grüße
J

für die Aktuelle Redaktion von RDL

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Antwort der Betriebsgruppe auf offenen Brief von Jürgen Grässlin (13.05.2022)

 

Sehr geehrter Jürgen Grässlin,

Radio Dreyeckland steht zu seinen Programmgrundsätzen, auch zum Antimilitarismus. Wir lehnen jede Macht des Militärs und jedes Eindringen von Militarismus in den zivilen Alltag ab. Jeden Einsatz von Militär bei Konflikten begleitet RDL kritisch.

RDL hat keinen Pazifismus - Grundsatz. Selbstverteidigung, auch bewaffnet, bei Gefahr für Leben, Demokratie, Menschenrechte und Freiheit muss möglich sein. Dies gilt auch gegen militärische Angriffe auf ein Land, wenn dieser Angriff Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Leben bedroht. Über pazifistische Haltungen in militärischen Konflikten kann bei RDL jederzeit diskutiert werden. Über die Frage was Antimilitarismus in dieser Zeit bedeutet und die Frage der Waffenlieferungen herrscht bei Radio Dreyeckland keine Einigkeit.

Unter denen, die Waffenlieferungen befürworten sind u. a. die russischen und ukrainischen Redakteur*innen und auch diejenigen, die derzeit Angehörige in der Ukraine haben, die akut vom Kriegsterror des russischen Militärs bedroht sind. Andere lehnen Waffenlieferungen weiterhin ab.

Dass die kontroversen Ansichten sich auch in Interviews widerspiegeln und dann auch mal zu einem Streitgespräch führen können, ist einer lebendigen Diskussionskultur innerhalb der Linken zuträglich. Den Hinweis auf die Pressefreiheit in Ihrem Schreiben halten wir für unangemessen und hat uns irritiert.

Herrn Ks. Stil betrachten wir keinesfalls als unfair. Er hat vehement aber durchgehend sachlich nachgefragt und widersprochen und ist Ihnen erst spät ins Wort gefallen (7:00), als eine Interviewfrage bereits in weiten Teilen (Atomkrieg) beantwortet war. Zum Begriff ‚Konzentrationslager‘ hat Herr K. bereits in dem Interview gesagt, dass es ihm um die Möglichkeit schwerster Repression und nicht um einen NS-Vergleich ging. Er bedauert die Wortwahl.

Wir würden uns wünschen, dass Diskussionen in Zukunft, wenn möglich, auch mal in moderierten Debattenrunden geführt werden. Wir würden uns freuen, wenn Sie als Gesprächspartner für solche oder andere Formate weiterhin zur Verfügung stehen.

Die Betriebsgruppe von Radio Dreyeckland (13.05.2022)

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Erneute Antwort von Jürgen Grässlin am 24.05.2022

Ihre/eure Mail vom 13. Mai 2022 hat mich erreicht. Der erste Abschnitt Ihres Schreibens enthält eine erfreulich klare Positionierung von Radio Dreyeckland im Sinne des bestehenden Programmgrundsatzes des „Antimilitarismus“. In den Passagen danach folgt jedoch bedauerlicherweise eine Distanzierung vom Pazifismus und im Folgenden auch vom Antimilitarismus.

Sie verteidigen in Ihrer Mail Herrn Keetmans journalistischen Stil und auch die von ihm vertretenen Positionen (mit Ausnahme des Bedauerns seiner Wortwahl bzgl. russischer „Konzentrationslager“). Dass ich dies anders sehe, habe ich in meinem Offenen Brief an RDL bereits dargestellt.

Sie verweisen in Ihrer Mail darauf, dass bei RDL „keine Einigkeit“ bzgl. der Frage bestehe, „was Antimilitarismus in dieser Zeit bedeutet“. Die Berichterstattung bzw. Kommentierung von Herrn Keetman für RDL entspricht bislang in meiner Wahrnehmung weitgehend der militärischen Argumentationslinie der Bundesregierung (und im Übrigen auch der oppositionellen CDU/CDU), der Bundeswehr und der NATO pro Waffenlieferungen und damit pro Stärkung des militärischen Widerstands in der Ukraine.

Wer Waffenlieferungen befürwortet, der akzeptiert unumgänglich auch die zuvor notwendige Rüstungsforschung, -entwicklung und -produktion und letztlich eben auch den Rüstungsexport. Waffenlieferungen in beträchtlichem Umfang und in längerer Dauer setzen den Bestand einer Hightech-Rüstungsindustrie in Deutschland, in der EU und in Staaten des Militärbündnisses NATO voraus.

Leider lehnt ein gewichtiger Teil der RDL-Redaktion eben nicht die „Macht des Militärs“ per se ab und begleitet somit eben auch nicht „jeden Einsatz von Militär bei Konflikten kritisch“, wie in Ihrer Mail behauptet.

Wer die Lieferung von Kriegswaffen in einen Krieg hinein befürwortet, kann sich nicht zugleich Antimilitarist*in nennen. Wer, wie Radio Dreyeckland, der militärischen Position wiederholt und umfassend eine Stimme gibt, kann sich nicht zugleich auf den „Antimilitarismus“ als Programmgrundsatz berufen.

Sie begleiten den Einsatz des russischen Militärs in Ihrer Berichterstattung kritisch – was uns vereint. Auch ich halte diesen für schwer menschenrechtsverletzend und unbestreitbar völkerrechtswidrig. Zugleich aber begleiten Sie bei RDL den Kampfeinsatz des ukrainischen Militärs in der Form, dass Sie diesen durch umfassende Waffenlieferungen gestärkt sehen wollen.

Ich hätte mir von Radio Dreyeckland spätestens mit Kriegsbeginn die umfassende Berichterstattung über pazifistische und antimilitaristische Gegenpositionen, wie u.a. das Schicksal von Deserteur*innen in Russland, Weißrussland und in der Ukraine, das Konzept der sozialen Verteidigung und im Kriegsverlauf folgenden die kursierenden Offenen Briefe an Bundeskanzler Scholz gewünscht. Die bundesdeutsche Friedens- und Antikriegsbewegung spricht hier mit vielen qualifizierten Stimmen. Bei RDL finden diese bislang, zumindest in meiner Wahrnehmung, keinen Platz.

Fazit: Antimilitaristisch sein zu wollen, gleichzeitig aber permanent Waffenlieferungen in einen Krieg hinein zu befürworten, ist ein in sich unauflösbarer Widerspruch und damit paradox. Radio Dreyeckland positioniert sich durch seine bisherige Berichterstattung im Russland-Ukraine-Krieg leider keinesfalls im Sinne des selbstgesetzten Programmgrundsatzes „Antimilitarismus“. Ich bedaure dies sehr und wünsche mir als einer Ihrer langjährigen treuen Hörer zukünftig eine Rückkehr zu militär- und rüstungskritischen Positionen.

Mit militärkritischen Grüßen
Jürgen Grässlin