Türkische Religionsbehörde als Nebenklägerin gegen kurdische Politiker*innen

Türkische Religionsbehörde als Nebenklägerin gegen kurdische Politiker*innen

Die türkische Religionsbehörde Diyanet, deren Chef vom Staatspräsidenten Tayyip Erdogan eingesetzt wurde, hat sich plötzlich als Nebenklägerin in einem Prozess gegen 108 kurdische Politiker*innen gemeldet. Die Beschuldigten sollen im Oktober 2014 zu Demonstrationen zur Unterstützung der Verteidiger*innen der Stadt Kobani in Syrien aufgerufen haben. Wir erinnern uns, der sogenannte Islamische Staat (IS) belagerte nach einem Völkermord an der jezidischen Minderheit im Irak auch die von einer aus Männern und Frauen bestehenden kurdischen Miliz verteidigte Stadt Kobani direkt an der syrisch-türkischen Grenze. Der IS war nach wochenlangen Kämpfen bereits tief in die Stadt eingedrungen. Erdogan ließ Panzer an der Grenze auffahren, doch nicht um den Verteidiger*innen zu helfen, sondern um sie von der Hilfe durch Kurd*innen aus der Türkei abzuschneiden. Dann machte Erdogan noch eine flapsige Bemerkung darüber, dass Kobani ja schon so gut wie gefallen sei. Darauf kam es zu zum Teil gewalttätigen Massenprotesten von Kurd*innen in der Türkei und zu Zusammenstößen mit IS-Sympathisant*innen in der Türkei. Schließlich ließ Obama Waffen aus Flugzeugen über Kobani abwerfen und Erdogan sah sich genötigt, die Grenze doch etwas zu öffnen. Die Verteidiger*innen siegten und die Schlacht wurde zu einer Art Stalingrad für den IS in Syrien.

 

6 Jahre später begann plötzlich die Untersuchung gegen die mutmaßlichen Organisator*innen der Proteste, allesamt kurdische Politiker*innen, darunter der ehemalige Co-Vorsitzende der Partei der Demokratie der Völker (HDP) Selahattin Demirtas. Demirtas war 2014 und aus dem Gefängnis heraus 2018 Gegenkandidat von Erdogan bei der Präsidentschaftswahl, jeweils mit einem für einen pro-kurdischen Politiker guten Ergebnis.

 

In der Erklärung des Diyanet zu seinem Antrag auf Zulassung zur Nebenklage wird Selahattin Demirtas ausdrücklich genannt (auch wenn der Name falsch geschrieben ist). Begründet wird die Teilnahme von der Religionsbehörde mit ihrer besonderen Sorge um die „religiösen, sittlichen und geistigen Werte“ der Gesellschaft und weil die islamische Religion für den Frieden und die Ruhe der Menschheit sorgen würde. Außerdem führt das Diyanet an, dass bei den Unruhen im Oktober 2014 auch Moscheen zu Schaden gekommen seien.

 

Atatürks Türkei hat bei den Friedensverhandlungen in Lausanne 1923 versprochen, das religiöse Recht abzuschaffen und sich ein Jahrhundert lang daran gehalten. Schon in dieser Hinsicht ist die Einmischung der Religionsbehörde in einen politischen Prozess eine bisher nicht gesehene Grenzüberschreitung in der modernen Türkei. Erdogan hat in den letzten Jahren allerdings in Reden, die Ergebnisse des Friedensvertrages von Lausanne mehrfach indirekt in Frage gestellt. Er gleicht da ein wenig dem Revisionisten Putin, der ja auch seinen Patriarchen Kyrill politisch eingespannt hat.

 

Hinzu kommt, dass sich die Demonstrationen 2014 gegen die heimliche Unterstützung für eine Mörderbande richteten, die nun mal im Namen der Religion angetreten war (auch wenn man friedliche Musliminnen dafür nicht verantwortlich machen kann). Hier soll wohl auch Geschichte umgeschrieben werden, indem nun die gegen den IS und seine Unterstützer gerichteten Demonstrationen und Unruhen als gegen die islamische Religion gerichtet erscheinen sollen. Dies obwohl die Teilnehmer*innen anderes im Sinn hatten und sicher zum großen Teil ebenfalls fromme Muslime waren. Aber die ständig wiederholte "Weisheit", dass Gläubige gut sind und andere eben schlecht, ist immer ein gutes Propagandamittel. Die Geschichte wird im Zweifelsfall entsprechend umgeschrieben.

 

Außerdem kommt hinzu, dass die religiösen IS-Sympathisanten von 2014 Erdogan bei der letzten Präsidentschaftswahl unterstützt haben. Es handelt sich um die Hür Dava Partisi (in etwa: „Partei der freien These“), auch HÜDA PAR genannt. Die Partei wurde 2012 gegründet und gilt als Nachfolgeorganisation der kurdisch-türkischen Hizbullah. Bei den Auseinandersetzungen mit den pro-kurdischen Demonstrant*innen, bei denen von beiden Seiten Gewalt angewandt wurde, starben auch mehrere Mitglieder der HÜDA PAR. Den Angeklagten wird aber nicht die Teilnahme an gewaltsamen Ausschreitungen, sondern lediglich der Aufruf zu Demonstrationen vorgeworfen. 22 Angeklagte befinden sich derzeit bereits seit längerem in Untersuchungshaft, zum teil auch wegen anderer politischer Delikte wie z. B. Äußerungen bei Reden im türkischen Parlament. Demirtas ist seit November 2016 in U-Haft, im Dezember 2020 verfügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine sofortige Freilassung, was die türkische Justiz mit einem Trick verhinderte.

jk