Cafe Cannes - Cannes Blog Tag 4 - Dossier 8

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Alexander Sancho-Rauschel live aus Cannes

 Tag 4 beginnt gut, soviel sei schon mal verraten… Heroisch trotz der Spaetfilme kaempfen wir uns aus den Betten, ich und mein Superhelden-Sidekick Martin, und starten mit dem Bus so frueh, dass wir es doch tatsaechlich in die 8 Uhr 30 Morgenvorstellung schaffen (!).Und es hat sich gelohnt…

Wir sind uns beide einig – Mike Leighs „Another Year ist der beste Film, den wir bisher in den vier Tagen Cannes gesehen haben.Toll gespielt, eine packende Kombination aus leichter Komoedie und ernsten, traurigen, manchmal sogar bitteren Momenten, dazu hervorragende Dialoge mit Witz und Tiefgang, und glaubwuerdige Charaktere, filmtypisch so weit ueberzeichnet, wie es eben sein muss, um die Figuren in 129 Minuten treffend charakterisieren zu koennen.

 Worum es geht?
Ein in sich ruhendes, zufriedenes aelteres Paar, Tom und Gerri (Jim Broadbent und Ruth Sheen - die Namensaehnlichkeit von Tom und Gerri mit den beiden Trickfilmfiguren muss immer wieder fuer muede Scherze ihrer Freunde herhalten…) lebt in einem netten Haeuschen am Rande einer englischen Stadt, geht seiner Arbeit nach (sie ist psychologische Beraterin in einer Sozialstation, er ist Geologe) und verbringt seine Freizeit im gemeinsam gepflegten Garten.Mary (Lesley Manville), eine juengere Arbeitskollegin von Gerri, ist dagegen mit sich und der Welt nicht so im Reinen wie die Beiden. Sie schleppt sich durch viel privates Chaos, steckt mitten in einer Midlife-Crisis, ist Single und beneidet offensichtlich die Beiden um ihr Glueck und ihre gegenseitige, bis ins Alter aufrechterhaltene Liebe und Wertschaetzung.

Ein wenig verliebt ist sie in den Sohn der Zwei, Joe (Oliver Maltman), der aber um einige Jahre juenger ist und sie eher als seine Tante ansieht. Als Zuschauer wird man den Verdacht nicht los, Mary erhoffe sich von einer Liaison mit Joe zugleich auch den Zutritt zu dieser gluecklichen Familie, deren Geborgenheit und Zusammengehoerigkeit sie neidisch beobachtet.Der ziemlich uebergewichtige, liebe, aber etwas tollpatschige juengere Bruder von Tom, Ken (Peter Wight) kommt auf Besuch, er versucht etwas unbeholfen, Mary anzubaggern, aber kann bei ihr nicht landen (es ist allerdings auch keine besonders gute Idee, zu dem Anlass ein T-Shirt mit dem Aufdruck „More Drinking – Less Thinking“ anzuziehen…).Mary kauft sich mit ihren mageren Ersparnissen ein gebrauchtes Auto, faehrt aber zu schnell und trinkt zuviel, so dass sie sich bald nicht nur von dem der Gebrauchtwagen minderer Guete, sondern auch von ihrem Fuehrerschein verabschieden muss.Als Joe schliesslich der von ihr verehrte Joe auch noch mit einer sympathischen Freundin ankommt, ist es zuviel fuer sie, sie bricht innerlich zusammen, und benimmt sich zugleich der Neuen gegenueber so daneben, dass man sie im Hause Tom&Gerri nicht mehr einlaedt. 

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Monate vergehen, die Jahreszeiten wechseln (unvermeidlich, wenn der Titel eines Films „Another Year“ heisst), Mary ist ein ziemliches Wrack…Als ein weiterer von Toms Bruedern, Ronnie (David Bradley) seine Frau verliert und nach der Beerdigung voellig hilflos ist, holt das freundliche Ehepaar ihn fuer einige Tage zu sich. Ronnie ist voellig aus der Spur, spricht kaum, sitzt apathisch herum und trauert…Als schliesslich Mary nach monatelanger Abwesenheit auftaucht und nur den ihr fremden Ronnie im Haus von Tom und Gerri vorfindet, entwickelt sich eine der schoensten und beruehrendsten Szenen des Films…

Die depressive, verwirrte Mary bringt den traurigen alten Mann zum Reden, ganz langsam, Schritt fuer Schritt, und irgendwie finden die Beiden zu einer gemeinsamen Sprache. Die zwei Figuren, die irgendwie mit dem Leben abgeschlossen haben, die zwei Einsamen koennen besser miteinander reden und vor allem miteinander schweigen als die gluecklichen Menschen um sie herum. Regisseur Leigh erspart uns ein billiges Happy End, die Balance aus Traurigkeit und Hoffnung ist kunstvoll abgewogen und dosiert.Faszinierend an dem Film ist vor allem der Gegensatz zwischen den Gluecklichen und den Orientierungslosen, der Kontrast schaerft den Blick fuer die Unterschiede, und macht zugleich, ohne dass man es den Zufriedenen vorwerfen koennte, das Leben fuer die Unzufriedenen noch unertraeglicher. Das glueckliche alte Paar ist

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herzerfrischend und eine Belastung fuer alle Anderen zugleich, die weniger Glueck (oder weniger Talent fuer Lebenskunst) haben. 

Unterhaltung mit Tiefgang, Poesie und Humor und eine saftige Portion Traurigkeit, perfekte Dialoge und interessante Charaktere – ganz grosses Kino des britischen Altmeisters Mike Leigh! Kommt sicher bald bei uns ins Kino, bitte vormerken und reingehen! Danke!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Fotos ASR

1 Cannes ist ueberall - sogar auf den Wasserflaschen!

2 Schaufenster in Cannes - auch die Modeboutiquen praesentieren Kameras und Filmplakate

3 Wo es um Filme geht, darf der Vater der Klamotte, der Meister des Slapsticks, der Koenig mit der Melone nicht fehlen