Was wäre anders gewesen, wenn die Taliban noch drei Monate gewartet hätten?

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Was wäre anders gewesen, wenn die Taliban noch drei Monate gewartet hätten?

Zuerst in den USA, dann auch in Deutschland war die Betroffenheit groß, dass die Taliban so rasch an die Macht zurückkehren würden. Die immer etwas sagenumwitterten und jedenfalls recht teuren westlichen Geheimdienste wie die CIA oder der BND haben wieder einmal das entscheidende nicht mitbekommen. Das war schon öfters so. Man denke etwa an die Anschläge vom 11. September 2001 ohne die die westlichen Staaten gar nicht in den Krieg nach Afghanistan gezogen wären. Politisch viel interessanter als die Frage nach dem Versagen der Geheimdienste, ist die Frage, was denn der Unterschied gewesen wäre, wenn die Gotteskrieger auf ihren Motorrädern drei Monate später gekommen wären?

 

Nach Medienberichten ging der BND bereits Ende 2020 fest von einer Machtübernahme durch die Taliban aus. Nur in der Zeiteinschätzung hatte man sich vertan. Insgesamt hatte man ja gut vorgesorgt. Schon vor Jahren hatte man die meisten der Ortskräfte dazu genötigt, sich von afghanischen Subunternehmern einstellen zu lassen. Damit ließ sich ein Schnitt machen, nur die direkt angestellten galten als wirkliche Ortskräfte und nur sie wollte man im Falle hoher Gefahr mit einem Visum versehen. Das auch noch gestaffelt je nachdem wie lange die Beschäftigung zurücklag. Ob das für die Taliban einen Unterschied macht, ob jemand der immer mit der deutschen KSK als Dolmetscher aufgetreten ist, direkt angestellt ist oder nur für einen Subunternehmer? Prüfen die zum Teil analphabetischen Taliban erstmal die Anstellungspapiere ehe sie jemandem am Straßenrand erschießen?

 

Das Fehlen einer vorausschauenden Planung und einer großzügigen Regelung erzeugte einen Flaschenhals bei der Visumserteilung. Damit waren das für Asyl zuständige Innenministerium (CSU) und das für die Anstellung vieler Ortskräfte zuständige Verteidigungsministerium (CDU) draußen und der Schwarze Peter lag im Zweifelsfall beim Außenministerium (SPD). Wahrscheinlich war das nicht ein von Anfang geplantes Schwarzer-Peter-Spiel und das Außenministerium agierte auch von selbst unverantwortlich genug. Trotzdem haben die bitteren Vorwürfe gegen Heiko Maas, jedenfalls wenn sie aus dem Mund anderer Regierungsvertreter kommen etwas Scheinheiliges. Der CDU-Abgeordnete Patrick Sensburg etwa fand es „unerträglich“, dass Heiko Maas den BND kritisiert habe, anstatt sich vor seine Leute zu stellen und zurückzutreten wie es frühere Minister getan hätten. Als Mitglied des Geheimdienstausschusses könnte Sensburg es eigentlich wissen, dass der BND dem Bundeskanzleramt unterstellt ist und nicht dem Außenministerium. Aber natürlich kann Sensburg darauf rechnen, dass das normale Publikum das nicht so genau weiß. Dann war da noch Armin Laschet, ein Meister darin sich reumütig zu geben und dabei im Grunde sich selbst zu loben. In Bezug auf Maas und die Visavergabe an Ortskräfte sagte Laschet: „Wir hätten mehr drängen müssen.“ Es fällt nur ein wenig schwer zu glauben, dass die CDU irgendwo ganz heimlich darauf gedrängt hat, sich mehr um die Ortskräfte zu sorgen. Der Innen- und Heimatminister Horst Seehofer war doch noch bis ein paar Tage vor dem Fall von Kabul damit beschäftigt, auf europäischer Ebene auf mehr Abschiebungen nach Afghanistan zu drängen. Außerdem bestand Seehofer auf einem weiteren indirekten Ausreisekriterium. Die Ortskräfte sollten die Flüge für sich und ihre Familien selbst bezahlen. Wie macht das eine große Familie aus einem armen Land, wenn sich das Haus nicht auf die Schnelle verkaufen lässt?

 

Es geht bei diesen Bemerkungen gar nicht darum, Heiko Maas zu entschuldigen. Er hat unentschuldbare Fehler begangen und irgendwelche Glanzleistungen aus seiner Zeit als Minister sind mir auch nicht präsent. Trotzdem ist es mal an der Reihe auf die Afghanistan-Scheinheiligkeit der CDU/CSU hinzuweisen.

 

Doch zurück zu der Frage, was geschehen wäre, wenn der Kampf um die Macht in Afghanistan noch etwas länger gedauert hätte. Nichts spricht dafür, dass dann mehr für den Schutz der Ortskräfte getan worden wäre. Am 23. Juni schmetterte der Bundestag mit den Stimmen von AfD/SPD/CDU/CSU bei Enthaltung der FDP einen Antrag der Grünen für eine großzügige Aufnahme der Ortskräfte ab. Nur Die Linke stimmte mit den Grünen. Dass sich die Regierung mit etwas mehr Zeit anders besonnen hätte, ist kaum anzunehmen.

 

Erinnert sich eigentlich noch jemand an die „Grüne Bewegung“ in Iran? Im Jahr 2009 gingen Millionen nach mutmaßlich gefälschten Wahlen auf die Straße. Das Mullah-Regime geriet unter erheblichen Druck und konnte sich nur mit Gewalt retten. Deutschland versprach darauf eine großzügige Aufnahme von iranischen Dissident*innen. Doch ein paar Monate später war das Interesse der Öffentlichkeit an der Sache bereits erloschen. Darauf einigten sich Bund und Länder auf eine Zahl für die Aufnahme: Sie lautete auf 20 Personen insgesamt.

 

So ähnlich wäre es mit Afghanistan wohl auch gelaufen, wenn sich die Taliban etwas mehr Zeit gelassen hätten. Dabei dreht sich das ganze um wenige tausend Personen und eine einmalige Aktion. So etwas wie eine moralische Verantwortung gegenüber dem Rest der afghanischen Bevölkerung wird von dem Feilschen um das Leben der Ortskräfte völlig überdeckt. „Wenn die Afghanen nicht selbst um ihr Land kämpfen, dann können wir es nicht tun“. So etwas lässt sich von Washington aus leicht sagen. Der Westen hat die Taliban mit Hilfe einheimischer Warlords vertrieben. Dann hat er bei allen Missständen in der afghanischen Politik und Armee die Augen zugedrückt, um zuletzt mit einem Schlag abzumarschieren. Ansonsten hofft man darauf, dass sich die Taliban gewandelt haben. Naja, ein wenig Scharia wird es wohl geben und die als „inklusiv“ angekündigte Regierung heißt in den Verlautbarungen der Taliban „Islamisches Emirat“. Ein paar Morde hat es auch schon gegeben und das auch mit offenbar gezielt ausgesuchten Opfern. Aber noch sind die Taliban damit beschäftigt, Waffen einzusammeln, zu schauen wer wo wohnt und wie man vielleicht an ein paar dringend benötigte Devisen kommt.

 

Um das Gewissen zu beruhigen und vielleicht auch einen Tropfen Einfluss zu behalten, sind Staaten sogar bereit, die Entwicklungshilfe für Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban kurzfristig erheblich zu erhöhen. Angefangen hat damit Dänemark, das derzeit mit die härteste Anti-Migrationspolitik in der EU verfolgt, gefolgt von Großbritannien.

 

Außerdem propagiert der deutsche Innen- und Heimatminister wieder auf europäischer Ebene die Idee, eine größere Fluchtbewegung solle in den Nachbarländern verbleiben. Seine europäischen Kolleg*innen finden das prima. Doch wie soll das gehen? Iran hat schon dreieinhalb Millionen afghanische Flüchtlinge aufgenommen und hat bereits Vorkehrungen getroffen weitere Flüchtlinge an der Grenze zu internieren, um sie später zurückzuschicken. Die Türkei hat schon 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. In letzter Zeit gab es gewalttätige Übergriffe gegen syrische Flüchtlinge. Dass sich Merkel bei einem Anruf bei Erdogan eine Abfuhr holen würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche und das Allahu akbar in der Moschee. Usbekistan hat bereits die ersten Flüchtlinge zurückgeschickt. Angeblich gingen sie sogar freiwillig. Bleibt im wesentlichen Pakistan, in dem die Taliban auch Einfluss haben. Und was ist das für eine Idee, Leuten die vor der Scharia fliehen zu sagen, geht doch nach Iran?

 

Kommen wir noch einmal zu der Frage zurück, was denn der Unterschied gewesen wäre, wenn die Gotteskrieger auf ihren Motorrädern drei Monate später gekommen wären? Für die Afghan*innen ein kleiner Unterschied, für einige westliche Politiker*innen offenbar ein riesengroßer. Das Schicksal irgendwelcher Afghan*innen ist egal, zumindest wenn es nicht im Fernsehen zu sehen ist, aber Bilder, die an Saigon 1975 erinnern stören massiv. Ein paar Monate später wären dann nicht mehr so viele Kameras vor Ort gewesen. Auch hätte sich der Zusammenhang mit dem Abzug schon etwas verwischt gehabt.

 

Was die deutsche Politik betrifft, so war gleich die allererste Reaktion: „Hilfe, da kommen dann wieder Flüchtlinge!“ Herr Seehofer prognostizierte, auf die Nachricht vom Fall Kabuls sofort, die Ankunft neuer Flüchtlinge und fügte dann hinzu: „Das ist keine Angstmache, das ist Realität!“ Ergo, vor den Flüchtlingen muss man sich fürchten. Im Zusammenhang mit den ausgesetzten Abschiebungen ist in den Medien nun ständig von „Straftätern“ die Rede, gegen die man nun nichts mehr unternehmen könnte. Wenn die Abschiebung nach Kabul das Mittel ist, um mit Straftätern umzugehen, was macht der Staat eigentlich dann wenn der Straftäter einen deutschen Pass hat? Während wir über diese schwierige Frage nachdenken, stellen wir jedenfalls fest, dass Politik und Medien die Worte Afghanen, Flüchtlinge und Straftäter wieder einmal zu einem Kontext machen. Die AfD mag bei der Bundestagswahl im September irgendwo zwischen 10 und 12 % landen, aber ihr Geist beherrscht die CDU/CSU und mehr oder weniger auch die anderen Parteien, teilweise bis hin zu den Grünen.

jk