Tschernobyl - 35 Jahre Super-GAU

Tschernobyl - 35 Jahre Super-GAU

Am 26. April 1986 explodierte Reaktorblock 4 des AKW Tschernobyl. Der radioaktive Fallout verseuchte weite Teile Europas. Noch heute wird in Pilzen und Wildschweinen in Deutschland Radioaktivität nachgewiesen, die häufig über den sogenannten Grenzwerten liegt.

Die Explosion und ein anschließendes Feuer in Block 4 des AKW Tschernobyl setzte radioaktive Wolken frei, die über weite Teile Europas zogen. 31 Menschen starben direkt nach dem Unfall. Hunderttausende Menschen wurden aus der Gegend evakuiert. Von der Katastrophe besonders betroffen sind die Ukraine mit 15 Prozent und Weißrußland (Belarus) mit 70 Prozent der radioaktiven Niederschläge. Ein erster notdürftiger "Sarkophag" aus 300.000 Tonnen Beton und 7000 Tonnen Stahl, der den zerstörten Reaktor ummantelte, wurde erst am 15. November 1986 fertiggestellt.

Unabhängige WissenschaftlerInnen schätzen, daß bereits in den ersten 15 Jahren - also bis 2001 - insgesamt rund 70.000 Menschen an den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe gestorben sind. Die Atom-Experten der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA behaupteten 2006, lediglich 56 Tote gingen auf den Unfall zurück: 47 Katastrophen-Helfer und neun Kinder mit tödlich verlaufendem Schilddrüsenkrebs. Die ukrainische Kommission für Strahlenschutz bezifferte die Tschernobyl-Toten der ersten zwanzig Jahre auf 34.499 Menschen. Die UN-Gesundheitsorganisation WHO veranschlagte bereits im Jahr 2000 die Zahl der Katastrophen-Helfer, die an Strahlenschäden und Suizid zu Tode kamen auf 50.000. Dabei gibt es genügend Beweise, Indizien und Dokumente für eine wissenschaftlich fundierte Schätzung der Todesopfer.

Rund 800.000 Menschen aus der gesamten Sowjetunion mußten sich als Katastrophen-Helfer ("Liquidatoren") an den Aufräumarbeiten nach der Katastrophe in Tschernobyl beteiligen. 50.000 von ihnen kamen nach unabhängigen Schätzungen in den ersten 15 Jahren nach 1986 durch Strahlenschäden oder Suizid zu Tode. Die 30-Kilometer-Sperrzone um das AKW ist bis heute durch Cäsium, Plutonium und Strontium radioaktiv verseucht.

Von den zahlreichen in der Allgemeinbevölkerung auftretenden Erkrankungen wird der durch radioaktives Jod verursachte Schilddrüsen-Krebs systematisch erfaßt. Bis Ende 2000 erkrankten in Weißrußland etwa 10.000 Menschen an diesem Krebs. Auch andere Tumor-Erkrankungen nahmen infolge von Tschernobyl zu. Bei Männern wurde eine drastische Zunahme von Lungen-, Magen-, Haut- und Prostatakrebs registriert. Bei Frauen hat sich die Zahl der Brustkrebs-Erkrankungen innerhalb von 10 Jahren verdoppelt.

Die Genetikerin Hava Weinberg untersuchte Hunderte Kinder von nach Israel ausgewanderten Katastrophen-Helfern. Die nach der Tschernobyl-Katastrophe Geborenen hatten - verglichen mit den vor 1986 geborenen Geschwistern - eine um 700 Prozent höhere Quote bei Erbgut-Mutationen. Wolodymyr Wertelecki, Chef-Genetiker an der Universität von Süd-Alabama, ließ mit US-amerikanischen Regierungsgeldern in einer Langzeitstudie durchschnittlich 14.000 Neugeborene pro Jahr in den ukrainischen Provinzen Wolyn und Rowno untersuchen. Die Zahl der Babys mit Spina bifida (offenem Rücken), so eines seiner Ergebnisse, ist um das 20fache gestiegen.

Laut Michail Gorbatschow, dem damaligen Regierungs-Chef der UdSSR, hat der Super-GAU von Tschernobyl die russische Volkswirtschaft allein bis zum Jahr 2000 umgerechnet 250 Milliarden Euro gekostet.

Und auch 35 Jahre danach zeigen sich die unbeherrschbaren Folgen des Super-GAU von Tschernobyl: Noch immer sind Pilze und Wildschweine in Deutschland so hoch radioaktiv belastet, daß sie "entsorgt" werden müssen. Jedes sechste Wildschwein in Bayern ist radioaktiv belastet, jedes zwölfte über dem "zulässigen" Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm - nicht selten über 2000 Becquerel pro Kilogramm.

In Deutschland wurde damals die radioaktiv kontaminierte Milch teils über Feldern verspritzt, teil als Pulver eingelagert. Allein in einer Firma in Wasserburg am Inn wurden über 5.000 Tonnen radioaktives, nicht verwertbares Molkepulver hergestellt. Dadurch konzentrierte sich die Radioaktivität und es ergaben sich bei Messungen Werte bis zu 8.000 Becquerel je Kilogramm Molkepulver. Für die freie Verkehrsfähigkeit von kontaminiertem Molkepulver lag der Grenzwert bei 1.850 Becquerel. Das kontaminierte Molkepulver wurde ab Mai 1986 in Waggons der Bundesbahn auf Abstellgleisen bei Rosenheim gelagert. Für die nicht mehr verkehrsfähige Ware wurde die Firma in Wasserburg vom Bundesverwaltungsamt mit 3,8 Millionen DM entschädigt. Die Kosten für das Aufbereiten und die sogenannte Entsorgung der Molke und ihrer Rückstände betrugen nach Angaben der Bundesregierung aus dem Jahr 2016 insgesamt 34 Millionen Euro. Ein deutscher Lebensmittel-Konzern mußte allein im Mai 1986 unverkäufliche Milchprodukte und Frischgemüse im Wert von rund 3 Millionen DM vernichten.

Auch in Frankreich ist heute unbestritten, daß die radioaktive Wolke von Tschernobyl - entgegen den offiziellen französischen Verlautbarungen des Jahres 1986 - nicht an der französischen Grenze haltmachte. Dies trifft auf die vor 35 Jahren über ganz Europa verteilten radioaktiven Isotope aus dem havarierten Reaktor des AKW Tschernobyl zu - ebenso wie auf die nach wie vor in Betrieb befindlichen Atom-Reaktoren im baden-württembergischen AKW Neckarwestheim als auch auf den ältesten in Europa in Betrieb befindlichen Atom-Reaktor im Schweizer AKW Beznau.