Impfstoffbestellungsdebakel

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Impfstoffbestellungsdebakel

Verglichen mit anderen Ländern (Israel, Bahrain, GB, Kanada, USA) beginnt die EU mit leichter Verzögerung mit dem Impfen und hat relativ wenig Impfstoff. Es gibt die Kritik, dass die EU einfach zu wenig Impfstoff bestellt hat. Um zu verstehen, wie es zu der Bestellung über die EU kam, ist ein Blick auf den Jahresanfang notwendig. Als erstes wurde Italien von der Corona-Welle ganz unvermittelt überrannt. Die italienische Regierung bat die anderen EU-Länder um Katastrophenhilfe und erhielt nichts. Kein einziges EU-Land, inklusive solcher Länder, die noch keinen einzigen Covid-19-Fall hatten, schickte auch nur einen Latexhandschuh. Schlimmer noch: Frankreich und Deutschland schlossen sogar ihre Grenzen für medizinisches Gerät. Ausnahmen für Italien lehnte Minister Spahn explizit ab. Damit kam selbst von Italien außerhalb der EU bestelltes, aber über Deutschland geliefertes Material nichtmehr nach Italien. Werbewirksam halfen China und Russland. Für die EU ein politisches Desaster.

 

Darauf entschlossen sich einige Gesundheitsminister, nun wenigstens den Impfstoff gleich für alle 27 EU-Staaten gemeinsam zu bestellen. Für kleinere und ärmere EU-Staaten war die gemeinsame Bestellung an sich ein Segen. Angeblich setzte die EU angesichts des unklaren Erfolgs auf verschiedene Firmen. Gegen eine Priorisierung von BioNTech/Pfizer sprach die wegen der extremen Kühlung schwierige Handhabung und mögliche Verzögerungen bei der Produktion eines nach einem völlig neuen Prinzip gefertigten Impfstoffes. Kam hinzu, dass es der teuerste Impfstoff war, wobei die Kosten für die Organisation der Massenimpfung ohnehin deutlich über den Kosten für den eingesetzten Stoff liegen, egal ob dieser 19 Euro oder 3 Euro kostet (ungefähre Preisspanne).

 

Nicht besonders ins Gewicht fiel bei den Bestellungen hingegen ein anderer Faktor, nämlich der Stand der Entwicklung. Unten ist verzeichnet, wann die EU bei wem Impfstoff bestellt hat und wann die klinische Erprobung des Impfstoffes begonnen hat:

 

 

  1. 8. Astra-Zeneca, GB/Schweden, klinischer Test protokolliert ab 21. 4.

 

  1. 9. Sanofi, Frankreich, klinischer Test ab 3. 9.

 

  1. 10. Janssen Pharmaceutica (zu J&J), Belgien, klinischer Test ab 22. 7.

 

  1. 11. BioNTech/Pfizer, klinischer Test zugelassen 22. 4.

 

  1. 11. Moderna, klinische Tests seit 16. 3.

 

Das heißt, anders als jetzt behauptet, setzte die EU im Sommer keineswegs auf ein Bündel von Impfstoffen, sondern bestellte nur einen zu diesem Zeitpunkt aussichtsreichen Kandidaten. Dann wurden im Herbst zwei weitere Impfstoffe hinzubestellt die in Mitgliedsstaaten produziert werden sollten, in der Entwicklung zu diesem Zeitpunkt aber bereits um Monate zurücklagen. Dabei verliefen die Tests bei BioNTech und Moderna problemlos, während Astra-Zeneca im Juli und September zweimal Probleme hatte. Bei BioNTech wurde erst im November bestellt. Außerdem war die Bestellung von 200 Mio. Dosen + 100 Mio. als Option, die bis dahin niedrigste Bestellung. Bei Moderna wurden dann nur 80 Mio. Dosen bestellt. Zum Vergleich: in der EU leben 447 Mio. Menschen und wenn sich alle impfen lassen würden bräuchte es annähernd 900 Mio. Dosen.

 

Bei der Zulassung verhält es sich nun nicht ganz unerwartet genau umgekehrt wie bei der Bestellung. Der Impfstoff von BioNTech wurde am 21. Dezember in der EU zugelassen (GB 2. Dez. Kanada 9. und USA 11. Dez.). Mit der Zulassung des Moderna-Impfstoffes in der EU wird für den 6. Januar gerechnet. Astra-Zeneca ist gerade im Vereinigten Königreich zugelassen worden. Eine Zulassung im Februar in der EU ist im Gespräch. Die Wirksamkeit ist gut, aber nicht so gut wie bei BioNTech und Moderna. Sanofi hatte Rückschläge und erwartet eine Zulassung frühestens im 4. Quartal 2021. Janssen Pharmaceutica erwartet "Zwischenergebnisse" zur Wirksamkeit "Ende Januar 2021". Das heißt Zulassung bestenfalls einige Monate später. Auch um die u. a. vom Land Baden-Württemberg und der Bundesregierung stark geförderte Firma Curevac in Tübingen, ist es in Sachen Impfstoff immer ruhiger geworden.

 

Dem deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn war die BioNTech-Bestellung der EU am Ende offenbar auch zu wenig. Er hat wohl noch im November nochmal 30 Mio. Dosen für Deutschland zusätzlich bestellt, die angeblich nicht zu Lasten der EU-Bestellung gehen sollen. Aus Italien kam aber nicht ganz unverständlich Kritik an dem neuen deutschen Alleingang. Damit war das Hauptanliegen der EU-Aktion, nämlich das politische Klima in der EU zu retten, auch wieder verspielt.

 

Anstatt die Sache nur von der Leyens Europa-Bürokratie zu überlassen, wäre es vielleicht besser gewesen, die Gesundheitsminister(innen?) hätten noch mehr in die Herstellungskapazitäten für verschiedene Impfstoffe investiert, vorrangig für solche, die in der Entwicklung vorne lagen und mit dem Hintergedanken, dass auch für andere Regionen, wie Lateinamerika ein fairer Anteil möglich wird.

jk

PS: Es gibt da noch das Nadelöhrargument, jüngst wieder von der EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides ins Feld geführt, wonach der Engpass nicht an den Bestellungen, sondern an den beschränkten Produktionskapazitäten liegen würde. Stimmt aber nur eingeschränkt, denn natürlich wird keine Firma ihre Produktionskapazitäten mit hohen Investitionen erweitern, wenn sie damit rechnen muss, auf dem Produkt sitzen zu bleiben und die Gefahr war bei dem Impfstoff groß, insbesondere da Zulassungen zwar von Fall zu Fall wahrscheinlich, aber nicht sicher sind. Die zögerliche Bestellpolitik war beim raschen Aufbau von Produktionskapazitäten sicher nicht förderlich. Aber immerhin liefert sie der EU-Kommission ein Argument. Den Vorteil muss man doch auch einmal sehen.