Atomkraftwerke und Hochwasser | Steigendes Risiko

Atomkraftwerke und Hochwasser | Steigendes Risiko

Infolge der menschengemachten klimatischen Veränderungen ereignen sich immer häufiger auch katastrophale Überschwemmungen. Damit steigt das Risiko eins Super-GAU, da die meisten Atomkraftwerke an Flüssen errichtet wurden. Bereits 1986 und 1999 war es in europäischen AKW wegen Hochwassers zu kritischen Unfall-Verläufen gekommen.

Knapp vier Monate nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde das AKW Cattenom an der französisch-saarländischen Grenze bei einem Hochwasser der Mosel überflutet. 400.000 Tonnen Wasser drangen in die Keller des AKW ein, in denen sich die sensibelsten Teile der Reaktoren befinden, unter anderem die Hochleistungspumpen des Primärkreislaufs. Aber auch in den überfluteten Verbindungsgängen drohte Gefahr. Hier laufen die Kabel entlang, die die Schaltanlagen und Pumpen der Reaktoren versorgen.

Ein Unfall, bei dem nur äußerst knapp ein Super-GAU vermieden werden konnte, ereignete sich in Folge des Sturms 'Lothar' in der Nacht zum 28. Dezember 1999 im AKW Blayais in der Nähe von Bordeaux. Das Hochwasser der Gironde, das in diesem Ausmaß bei der Planung des AKW Blayais nicht vorgesehen war, hatte dazu geführt, daß Wasser ins Reaktorgebäude eindrang und zentrale Anlagen-Teile überflutete.

Spätere Analysen des Unfall-Hergangs zeigten, daß ein Zusammenbruch der Stromversorgung kurz bevor stand und damit die Notabschaltung unmöglich geworden wäre. Die Pumpen der Kühlkreisläufe wären ausgefallen, der Reaktorkern wäre durchgebrannt und eine Explosion des Reaktordruckbehälters unvermeidbar geworden. Entgegen der sonstigen Verschwiegenheit der französischen Presse in Fragen der "nuklearen Sicherheit" berichtete die Zeitung 'Sud Ouest', daß das AKW Blayais nahe Bordeaux nur knapp einem schweren Unglück entgangen sei.

Im Juni 2011 sorgte ein Hochwasser des Missouri dafür, daß das AKW Fort Calhoun von Wassermassen eingeschlossen und nicht mehr auf dem Landweg erreichbar war. Selbst zwei Wochen nach Beginn des Hochwassers wurde die Öffentlichkeit weder von den US-amerikanischen Behörden noch von der deutsche Bundesregierung adäquat über die eingetretenen Schäden informiert.

Steigende Temperaturen und Extrem-Regenfälle mit bisher als "Jahrhunderthochwasser" bezeichneten Pegelständen der Flüsse wie in den vergangenen Tagen im Westen Deutschlands machen Atomkraftwerke zu einem permanenten Hochsicherheitsrisiko. Das Umweltinstitut München hat nun die Forderung der Anti-Atom-Bewegung nach sofortiger Stilllegung aller Atomkraftwerke bekräftigt und weist erneut auf das steigende Risiko beim Betrieb von Atomkraftwerken in Europa hin.

Schon seit langer Zeit warnen ExpertInnen, daß es an einigen europäischen AKW-Standorten infolge der klimatischen Veränderungen zu nicht mehr beherrschbaren Unfall-Verläufen kommen kann. Selbst abgeschaltete Reaktoren - wie dies im US-amerikanischen AKW Fort Calhoun im Juni 2011 der Fall war - sind zum Zwecke der Kühlung der Brennelemente auf eine Stromversorgung der Umwälz-Pumpen angewiesen. Hinzu kommt, daß der Zugang für Rettungskräfte während Naturkatastrophen stark behindert oder gar unmöglich sein kann.

Die Gefahr zeigte sich in der aktuellen Hochwassersituation beim belgischen Atomkraftwerk Tihange, das mit dem Wasser der Maas gekühlt wird. Nachdem die Situation in den vergangenen Tagen alarmierend war, erklärte die belgische Atomaufsicht nun, die Lage im sei "stabil", erfordere aber weiterhin "erhöhte Wachsamkeit". Die belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel sind ohnehin bereits seit Jahren in den Schlagzeilen - es wurden wiederholt Risse im Reaktordruckbehälter gefunden.

Auch das AKW Doel ist unzureichend gegen Hochwasser infolge extremer Regenfälle geschützt. In der Vergangenheit hatte das Drainagesystem bereits versagt, worauf das Umweltinstitut München im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung zur Laufzeitverlängerung der beiden Reaktoren des AKW Doel erst vor Kurzem hinwies.

Der Super-GAU im japanischen AKW Fukushima Daiichi im März 2011 sorgte unter anderem dafür, daß der Hochwasserschutz zahlreicher europäischen Atomkraftwerke nachgebessert wurde. Das reiche jedoch für immer wahrscheinlichere extreme Überflutungen nicht aus, warnen ExpertInnen.

Auch in Deutschland ist der Hochwasserschutz an vielen Atomkraftwerken unzureichend, berichtet das Umweltinstitut München: "Insbesondere das AKW Grohnde wäre bereits beim Erreichen des Bemessungshochwassers um 80 Zentimeter überflutet, beim AKW Gundremmingen beträgt der Spielraum zwischen dem angesetzten Bemessungshochwasser und der Anlagenauslegung nur 8 Zentimeter. Diese Sicherheitsreserve ist unzureichend, da davon auszugehen ist, daß auch hierzulande historische Hochwasser infolge des Klimawandels noch deutlich überschritten werden können."

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die durch Überschwemmung verursachte Bedrohung an vielen AKW-Standorten erhöht, so das Fazit des Reports Risiken von Laufzeitverlängerungen alter Atomkraftwerke (inrag.org) der International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG) vom April 2021. Ereignisse mit Überschwemmung hätten demnach gezeigt, daß Wasserstände – auch unterhalb des theoretisch vorhandenen Niveaus des Hochwasserschutzes – Sicherheitseinrichtungen beschädigt haben. Als Grund dafür nennt INRAG etwa falsche Berechnungen des Wasserwiderstands von Türen oder korrodierte Versiegelung bei Kabeldurchdringungen. Überflutungsereignisse bergen laut Bericht zudem die Gefahr, Sicherheitssysteme gleichzeitig funktionsunfähig zu machen.

Der INRAG-Bericht benennt die Einfluß-Faktoren durch die menschengemachten klimatischen Veränderungen. Die Effizienz von Atomkraftwerken geht demnach mit steigender Temperatur zurück, da Anzahl und Dauer von Ausfällen mangels Kühlwassers zunehmen. Atomkraftwerke beziehen enorme Mengen an benötigtem Kühlwasser häufig aus angrenzenden Flüssen. Wenn die Temperatur der Flüsse mit anhaltenden Hitzeperioden steigt, wird das problematisch – denn das Wasser ist dann zur Kühlung zu warm. In Frankreich geschah dies in den vergangenen Jahren immer häufiger. Atomkraftwerke mußten hitzebedingt teilweise heruntergefahren oder abgeschaltet werden und Frankreich war vom Strom-Import aus den Nachbarländern abhängig.

Die international gut vernetzte Kernkraft-Kirche setzt gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien das propagandistisch als Schlagwort eingesetzte Narrativ von der "Dunkelflaute" ein. In der Realität trifft stattdessen das Verdikt der "Hitzeflaute" auf viele an Flüssen errichtete Atomkraftwerke zu - gerade in Frankreich.

An Küsten gelegene Atomkraftwerke sind laut dem Bericht durch einen Anstieg des Meeresspiegels bedroht. Die Häufigkeit wetter- und klimabedingter Extremereignisse sowie deren Intensität ändern sich zusehends – dies erfordere eine Verbesserung der Vorsorgemaßnahmen.

Auch in der Schweiz muß die Gefahrenlage für die Atomkraftwerke Beznau und Gösgen neu analysiert werden. Neben dem Risiko der Überschwemmung besteht bei Extremhochwasser die Gefahr der Unterspülung, da diese Atomkraftwerke auf Sand und Kies errichtet wurden.

Bei Hochwassern der Aare, wie sie nach herkömmlicher Einschätzung nur alle 100.000 Jahre vorkommen, werden nach vorliegenden Untersuchungen bei den Notstandsgebäuden der betroffenen Atomkraftwerke Pegelstände von gut einem Meter erreicht. Dabei besteht ein hohes Risiko von Erosion. So steht etwa das AKW Beznau auf einer künstlichen Insel. Diese besteht im südwestlichen Bereich aus Niederterrassenschotter und im nordöstlichen Bereich aus einer Aufschüttung. Deren Uferböschungen seien zwar gesichert. Ein Versagen der Ufersicherung infolge einer Erosion beziehungsweise sogenannten Unterkolkung könne aber nicht ausgeschlossen werden.

Die Hochwasser-Studie der Schweizer Energie-Stiftung (SES) zur Gefährdungsbeurteilung an Aare und Rhein warnt, daß im Falle eines Extremhochwassers vor allem eine große Gefahr durch Verstopfungen von Wehren und Brücken rund um die Atomreaktoren besteht. Das Schweizer Bundesamt für Umwelt räumte ein, daß Langzeitbeobachtungen allein nicht mehr ausreichend für ein "vertieftes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Klimaänderung und Extremereignissen" seien.

Angesichts dieser Erkenntnisse und realer Risiken erklärte Hauke Doerk, Referent für Radioaktivität am Umweltinstitut München: "Unerwartet starke Hochwasser könnten zu einem zweiten Fukushima in Europa führen." Die Klimakrise verschärfe das nukleare Risiko weiter. "Wir fordern, die hochwassergefährdeten Atomkraftwerke sofort vom Netz zu nehmen und verstärkt in ein erneuerbares Energiesystem zu investieren, welches sowohl die Folgen der Klimakrise abmildert als auch sicher zu betreiben ist."

Der Super-GAU in Tschernobyl und Fukushima habe jeweils gezeigt, daß die Atomkraftwerke nicht so sicher sind, wie gefordert und angenommen worden war. Dies zeigt, daß das Risiko der Kraftwerke zum Zeitpunkt ihrer Genehmigung unterschätzt wurde.

Die Alterung von Atomkraftwerken berge ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Unfälle und radioaktive Freisetzungen, heißt es im INRAG-Bericht. Dieses werde durch den Weiterbetrieb von Altanlagen infolge von Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen nochmals erheblich erhöht. Daran könnten auch Nachrüstungen wenig ändern.

Die Altersstruktur der in Europa betriebenen Atomkraftwerke zeige, daß sich sehr viele Anlagen bereits der Grenze der ursprünglichen technischen Auslegung nähern oder diese bereits überschritten haben. Alle realisierten europäischen Kraftwerks-Konzepte sind laut Studie sicherheitstechnisch veraltet. Doch die meisten alten Meiler in ganz Europa sollen weiter betrieben werden. Die Einhaltung heutiger Sicherheits-Standards würde praktisch einen kompletten Neubau eines Atomkraftwerks bedingen, bemerken die Studien-AutorInnen. Kein Mitgliedstaat der EU könnte einem derzeit betriebenen Atomkraftwerk eine neue Baugenehmigung erteilen.

Die Aussage, ein altes Atomkraftwerk sei sicher, ist nach Ansicht der StudienautorInnen wertlos und "nicht nachvollziehbar, wenn nicht zugleich die verbleibenden Risiken erkannt sind und darüber transparent informiert wird." Nukleare Risiken bleiben für die Betroffenen im Dunklen, weil darüber nicht ausreichend und in einem verständlichen Maß informiert werde, so die Kritik. Eine Verpflichtung der Betreiber und der Behörden darüber bestehe nicht.

Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, daß der Weg in die Energiezukunft auf dem schnellen und entschlossenen Ausbau der erneuerbaren Energien beruht. Die alten Energien – ob nuklear oder fossil – gefährden Mensch und Umwelt in einem nicht vertretbaren Ausmaß.