Atom-Bombe und ICAN-Städte-Appell

Atom-Bombe und ICAN-Städte-Appell

In den vergangenen Tagen häuften sich öffentliche Aussagen zum Thema Atombombe. Vor elf Tagen forderte die evangelische Kirche auf ihrer EKD-Synode in Dresden die deutsche Bundesregierung dazu auf, den UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterzeichnen. Am Freitag (22.11.) sprach sich der deutsche Außenminister Heiko Maas ausgerechnet in Hiroshima gegen den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland aus und am Sonntag (24.11.) verurteilte das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, die Bewaffnung mit Atomwaffen als Verbrechen. In den vergangenen zehn Monaten haben sich inzwischen über 60 deutsche Städte und Gemeinden dem ICAN-Städte-Appell angeschlossen, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, endlich den UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterzeichnen.

Bei seinem Besuch in Japan verurteilte Papst Franziskus am Sonntag, 24.11., die Bewaffnung mit Atomwaffen als Verbrechen. Bau und Besitz von Atomwaffen seien unmoralisch. Nicht militärische Abschreckung führe zum Frieden, sondern nur Gerechtigkeit.

Der Besuch der beiden 1945 von Atombomben zerstörten Städte Hiroshima und Nagasaki war der Höhepunkt der 32. Auslandsreise des katholischen Kirchenoberhaupts. Dabei setzte er mit seinen beiden Ansprachen Maßstäbe und richtete die katholische Kirche friedenspolitisch neu aus.

Papst Johannes Paul II. hatte in den 1980er-Jahren, als die Friedensbewegung in Deutschland mit Hunderttausenden im Bonner Hofgarten gegen die NATO-Aufrüstung mit neuen atomaren Mittelstreckenraketen protestierte, die militärische Abschreckung noch als "unter den derzeitigen Umständen moralisch akzeptabel" bezeichnet. Papst Franziskus rückt nun unmißverständlich von dieser Position ab. Die Politik der militärischen Abschreckung, sei es durch Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen, "vergiftet die Beziehungen zwischen den Völkern und verhindert jeden möglichen Dialog". Frieden und internationale Stabilitäten ließen sich nicht "auf der Angst gegenseitiger Zerstörung" aufbauen, sondern nur durch eine "globale Ethik der Solidarität und Zusammenarbeit", erklärte Papst Franziskus am Sonntagmorgen im Atombombenpark in Nagasaki.

Der deutsche "rote" Außenminister Heiko Maas hatte hingegen am Freitag in Hiroshima auf recht durchsichtige Weise versucht, die Öffentlichkeit zu täuschen, indem er behauptete, sich für die Abrüstung von Atomwaffen einzusetzen. Bekanntlich war die SPD an drei der vier Koalitionsregierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel beteiligt: Von 2005 bis 2009, von 2013 bis 2018 und erneut seit Anfang 2018. Doch obwohl der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU am 26. März 2010 in einer Entschließung den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland forderte, glänzt die deutsche Regierung in den vergangenen acht Jahren mit Nichtstun. Der UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen wurde am 7. Juli 2017 mit den Stimmen von 122 von insgesamt 193 Staaten angenommen. Dieser Vertrag geht maßgeblich auf die Initiative der internationalen Friedens-Organisation ICAN zurück, die hierfür am 11. Dezember 2017 in Oslo den Friedensnobelpreis für "ihre Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen von Atomwaffen zu lenken und für ihre bahnbrechenden Bemühungen, ein vertragliches Verbot solcher Waffen zu erreichen" erhielt. Deutschland hat diesen Vertrag jedoch noch nicht unterzeichnet.

Vom 10. bis 13. November fand die Synode der Evangelischen Kirche in Dresden statt. In einem Beschluß zu "Gerechtigkeit und Frieden" fordert sie die deutsche Bundesregierung dazu auf, den UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterzeichnen. Die EKD-Synode ist das höchste Gremium der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). In dem in Dresden gefaßten Beschluß heißt es, das politische Ziel müsse eine "Welt ohne Atomwaffen" sein. Die Einsicht erscheine "unausweichlich" - so weiter im EKD-Beschluß - , daß "nur die völkerrechtliche Ächtung und das Verbot von Atomwaffen den notwendigen Druck aufbaut, diese Waffen gänzlich aus der Welt zu verbannen." Je länger Atomwaffen produziert, modernisiert, weiterentwickelt und einsatzbereit gehalten werden, desto größer sei die Gefahr, daß es zu einem Einsatz von Atomwaffen oder zu einem katastrophalen Unfall kommt .

Weltweit stehen 15.000 Atomsprengköpfe einsatzbereit zur Verfügung, mit denen das Leben auf diesem Planeten 70 Mal vernichtet werden kann. In einer Rede am 10. Oktober 1981 fragte Uta Ranke-Heinemann, wo denn die 100 Milliarden Menschen seien, die per "Overkill" durch die damals verfügbaren Atomwaffen getötet werden könnten. Es bestehe ja kein Mangel an Waffen mehr, vielmehr reichten die Menschen, die durch Atomwaffen vernichtet werden könnten, nicht mehr aus.

Noch immer kann mit einem Einsatz von Atomwaffen ein nuklearer Winter ausgelöst werden, der alle Bemühungen der jungen Generation und ihrer Bewegung "Fridays for future" mit einem Schlag zunichtemachen kann. Laut einer im Jahr 2018 veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchung reichen schon hundert Atombomben aus, deren Abwurf auf ein Land dieser Erde so starke Brände auslösen würde, daß in der Folge weltweit 10 bis 20 Prozent bei den wichtigsten Nahrungsmitteln ausfallen und rund 2 Milliarden Menschen schon im ersten Jahr verhungern.

Wenn wir diese apokalyptische Gefahr nicht verdrängen, muß uns klar sein, was die besondere Bedrohung für Städte, auf die Atomraketen vornehmlich zielen, bedeutet. Die städtische Bevölkerung ist in einem gewissen Sinne privilegiert. Sie kann im Falle eines Atom-Kriegs mit einem schnellen, statt mit einem langsamen qualvollen Tod rechnen.

Durch Atomwaffen starben seit 1945 schon hunderttausende Menschen. Bei rund 2.100 Atomwaffen-Tests wurde eine riesige Menge Radioaktivität freigesetzt, die zu einem großen Teil bis in die Stratosphäre gelangte und so über die gesamte Erdkugel verteilt wurde. Die ÄrztInnen-Organisation IPPNW schätzt die weltweite Zahl tödlicher Krebsfälle durch die Atomwaffen-Tests allein bis zum Jahr 2000 auf mindestens 430.000. Der Strahlenbiologe Prof. Roland Scholz von der Universität München kam bei eigenen Berechnungen auf 3 Millionen zusätzlichen Krebstote bis zum Jahr 2000 allein aufgrund der äußeren Fallout-Strahlenbelastung.

Am Schlimmsten jedoch ist die permanente Bedrohung, daß durch einen Atom-Krieg die gesamte Menschheit vernichtet werden kann. Nach der logischen Erkenntnis des US-amerikanischen Ingenieurs Edward A. Murphy jr., daß "alles was schiefgehen kann, auch irgendwann schiefgeht" (Murphys Gesetz), bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Menschheit schafft die Atombombe ab oder die Atombombe schafft die Menschheit ab.

Michail Gorbatschow, früherer Staats-Chef der UdSSR, der 1987 mit US-Präsident Ronald Reagan den INF-Vertrag zur Abrüstung von atomaren Mittelstreckenraketen vereinbart hatte, warnte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder öffentlich vor der Gefahr des Atom-Kriegs aus Versehen. Allein in seiner Amtszeit (1985 bis 1991) war es nach Aussage Gorbatschows mindestens drei Mal nur ganz knapp gut gegangen und nur mit viel Glück habe der Atom-Krieg noch verhindert werden können.

Nicht erst seit dem Amtsantritt von Donald Trump wird in den USA an "Mini-Nukes" geforscht. Mit diesen miniaturisierten Atomwaffen soll der Atom-Krieg "führbar" gemacht werden. Das Risiko der Selbstvernichtung der Menschheit nimmt von Jahr zu Jahr zu.

Auch wenn in den Mainstream-Medien häufig suggeriert wird, es habe ein Paradigmen-Wechsel in den USA nach dem Ende der Amtszeit von Barack Obama und der Wahl Donald Trumps ins Amt des US-Präsidenten stattgefunden, muß daran erinnert werden, daß Obama keineswegs der Friedens-Messias war, den seine Image-Kampagne verhießen hatte. Entgegen seinen charismatischen Reden unterschied sich US-Präsident Barack Obama weder von seinen Amtsvorgängern oder von seinem Nachfolger. In einer Rede am 24. Juli 2008 in Berlin suggerierte Obama, er kämpfe für "eine Welt ohne Atomwaffen". Als US-Präsident erneuerte er dieses Versprechen in einer viel beachteten Rede am 5. April 2009. Am 10. Dezember 2009 erhielt er den Friedensnobelpreis. Doch bereits ein halbes Jahr später, im Mai 2010 beschloß Obama, 80 Milliarden US-Dollar in die US-amerikanischen Atomwaffen zu investieren.

Zunächst hieß es 2010, die 80 Milliarden US-Dollar würden lediglich der "Modernisierung" der US-amerikanischen Atomwaffen dienen. Aber 2013 stellte sich heraus, daß es sich um eine Neuentwicklung handelt. Bis 2020 sollen mit diesem Geld die - auch in Büchel gelagerten - Atombomben des Typs B61 durch neue des lenkbaren Typs B61-12 ersetzt werden. Wenn Atombomben lenkbar sind, bedeutet dies eine erhebliche Verbesserung der Treffergenauigkeit. Auf russischer Seite erhöht sich dadurch das Risiko, daß bei einem atomaren Erstschlag der USA die tief eingebunkerten Kommandostände noch vor der Auslösung des atomaren Zweitschlags zerstört werden könnten - eine gefährliche Beschleunigung der Aufrüstungs-Spirale.

Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm schrieb 1964:

"Ich werde mich hier nicht mit allen Aspekten befassen, die einen modernen Krieg motivieren und die großenteils auch schon bei früheren Kriegen genauso vorhanden waren wie beim Atomkrieg. Es geht mir um ein sehr wesentliches Problem, das speziell den Atomkrieg betrifft. Welche Begründung man auch immer für frühere Kriege vorgebracht haben mag - Verteidigung gegen einen Angriff, wirtschaftliche Vorteile, Befreiung, Ruhm, Erhaltung eines bestimmten Lebensstils - alle diese Begründungen sind für einen Atomkrieg nicht mehr stichhaltig. Man kann nicht mehr von Verteidigung, von Vorteilen, von Befreiung oder Ruhm sprechen, wenn "bestenfalls" die Hälfte der Bevölkerung innerhalb von Stunden in Asche verwandelt wird, wenn alle Kulturzentren zerstört sind und das Leben für die Überlebenden auf so barbarische Weise brutalisiert wird, daß sie die Toten beneiden werden.

Wie kommt es, daß trotz alledem die Vorbereitungen für den Atomkrieg weitergehen, ohne daß stärker, als dies bisher geschieht, dagegen protestiert wird? Wie ist es möglich, daß nicht mehr Leute mit Kindern und Enkeln aufstehen und laut Protest erheben? Wie kommt es, daß Menschen, die doch vieles haben, wofür es sich zu leben lohnt, oder die doch wenigstens diesen Anschein erwecken, nüchtern die Vernichtung alles dessen erwägen? Es gibt viele Antworten auf diese Fragen, doch gibt es keine befriedigende Erklärung - außer der einen: daß die Menschen deshalb die totale Vernichtung nicht fürchten, weil sie das Leben nicht lieben; oder weil sie dem Leben gleichgültig gegenüber stehen oder sogar weil sich viele vom Toten angezogen fühlen.

Diese Hypothese scheint allen unseren Annahmen zu widersprechen, daß die Menschen das Lebendige lieben und sich vor dem Toten fürchten und daß außerdem unsere Kultur mehr als jede zuvor ihnen Zerstreuung und Vergnügungen bietet. Aber vielleicht sollte man sich fragen, ob unsere Zerstreuungen und Vergnügungen vielleicht etwas ganz anderes sind als Freude und Liebe zum Leben.

Es ist nicht einmal allzu abwegig zu vermuten, daß der Stolz und die Begeisterung des homo mechanicus über Geräte, die Millionen von Menschen auf eine Entfernung von mehreren tausend Meilen innerhalb von Minuten töten können, größer ist als seine Angst und seine Niedergeschlagenheit über die Möglichkeit einer solchen Massenvernichtung. Der homo mechanicus genießt noch den Sex und den Drink, aber er sucht diese Freuden in einem mechanischen und unlebendigen Rahmen. Er meint, es müsse da einen Knopf geben, den man nur zu drücken brauche, um Glück, Liebe und Vergnügen zu erhalten. (Viele gehen zum Psychotherapeuten mit der Illusion, er könne ihnen sagen, wo so ein Knopf zu finden ist.)

Man überlege sich einmal, welche Rolle das Töten in unseren Unterhaltungsprogrammen spielt. Die Filme, die Comic Strips, die Zeitungen sind höchst aufregend, weil sie eine Menge von Berichten über Destruktion, Sadismus und Brutalität enthalten. Millionen Menschen führen ein eintöniges, aber behagliches Leben, und nichts bringt sie mehr in Erregung, außer sie sehen, wie einer umkommt, oder lesen darüber, und es ist gleichgültig, ob es sich nun um einen Mord oder einen tödlichen Unfall bei einem Autorennen handelt. Ist das kein Hinweis darauf, wie tief diese Faszination am Toten bereits in uns Wurzeln geschlagen hat?

Kurz gesagt: Intellektualisierung, Quantifizierung, Abstrahierung, Bürokratisierung und Versachlichung - die Kennzeichen der heutigen Industriegesellschaft also - sind keine Lebensprinzipien, sondern mechanische Prinzipien, wenn man sie auf den Menschen statt auf Dinge anwendet. Menschen, die in einem solchen System leben, werden gleichgültig gegenüber dem Leben und fühlen sich vom Toten angezogen. Freilich merken sie es selber nicht. Sie verwechseln den erregenden Kitzel mit Lebensfreude und leben in der Illusion, ein sehr lebendiges Leben zu führen, wenn sie viele Dinge besitzen und benutzen können. Die spärlichen Proteste gegen den Atomkrieg, die Diskussion unserer Fachleute für Atomkrieg über das Gleichgewicht totaler oder halb-totaler Zerstörung zeigt, wie weit wir uns im "finsteren Tal des Todes" befinden.

Wir finden diese Merkmale einer nekrophilen Orientierung in sämtlichen modernen Industriegesellschaften ohne Rücksicht auf ihre jeweilige politische Struktur. Die Gemeinsamkeiten des russischen Staatskapitalismus mit dem korporativen Kapitalismus sind größer als die Unterschiede. Beiden gemeinsam sind ihre bürokratisch-mechanischen Methoden und ihre Vorbereitung der totalen Destruktion."

(Erich Fromm, 'The Heart of Man' - 1964 - Der Originaltext des Buches ist auf Englisch.)